Wenn nichts unseren Blick aufhält, trägt unser Blick sehr weit. Doch wenn er auf nichts stößt, sieht er nichts; er sieht nur das, worauf er stößt: der Raum, das ist das, was den Blick aufhält, das, worauf die Augen treffen: das Hindernis: Backsteine, ein Winkel, ein Fluchtpunkt: der Raum, das ist, wenn es einen Winkel bildet, wenn es aufhört, wenn man sich umdrehen muss, damit es wieder weitergeht. Der Raum hat nichts Ektoplasmisches; er hat Ränder, er verläuft nicht in alle Richtungen, er tut alles, was getan werden muss, damit die Eisenbahnschienen sich lange vor der Unendlichkeit begegnen.
Georges Perec, Träume von Räumen
Vor Weimar
Bryan Schutmaat: Broken Window
Umweltzerstörung, Verfall, Ermattung: Die Werkgruppe „Vessels (ongoing)“ des amerikanischen Fotografen Bryan Schutmaat schildert, wie er selbst sagt, ein Land in Not.
Im Stil der Open-Road-Fotografie, durchaus aber mit allegorischem Charakter, zeigt „Vessles“ die Auswirkungen wirtschaftlicher Enteigung und gesellschaftlicher Verwahrlosung sowie die Folgen des selbstzerstörerischen Raubbaus an der Natur.
Beispielhaft für diesen dokumentarisch-allegorischen Ansatz, der an die düstersten Romane von Cormac Mccarthy erinnert, ist „Broken Window“. In einer schräg von rechts aufgenommenen Scheibe und unter einer Sonne, die durch die zerbrochene Scheibe entstanden ist, spiegeln sich unscharf im Hintergrund ein düsterer, wolkenverhangener Himmel und eine Gebirgskette.
Bildquelle
Bryan Schutmaat
Da schwang die Schaukel durch den Schmerz
Da schwang die Schaukel durch den Schmerz -, doch siehe,
der Schatten wars des Baums, an dem sie hängt.
Ob ich nun vorwärtsschwinge oder fliehe,
vom Schwunge in den Gegenschwung gedrängt,
das alles ist noch nicht einmal der Baum.
Mag ich nun steiler schwingen oder schräger,
ich fühle nur die Schaukel; meinen Träger
gewahr ich kaum.
So laß uns herrlich einen Baum vermuten,
der sich aus Riesenwurzeln aufwärtsstammt,
durch den unendlich Wind und Vögel fluten
und unter dem, in reinen Hirtenamt,
die Hirten sannen und die Herden ruhten.
Und daß durch ihn die starken Sterne blitzen,
macht ihn zur Maske einer ganzen Nacht.
Wer reicht aus ihm bis zu den Göttersitzen,
da uns sein Wesen schon nachdenklich macht?
Rainer Maria Rilke, Die Gedichte 1922 bis 1926
Anna Di Prospero, Selbstporträt mit meiner Mutter
Der Blick des Betrachters fällt von außen nach innen. Er steht augenscheinlich vor einer Glasscheibe, hinter der, der Bildunterschrift zufolge, die Fotografin und ihre Mutter zu sehen sind.
Die Mutter, links hinter der Tochter, hält dieser, während sie gegen den Himmel blickt, die Augen zu. Diese Geste bleibt indes in der Schwebe. Genauso wenig, wie der gebannte Blick der Mutter verrät, ob das, was vor dem Fenster am Himmel zu sehen ist, etwas Erfreuliches oder Beängstigendes ist, wird entschieden, ob die Tochter versucht, die Hände der Mutter von ihren Augen wegzuziehen, um damit selbst das Geschehen am Himmel sehen zu können, oder ob sie ihrerseits die Hände der Mutter auf ihre Augen presst, um sich vor dem Anblick zu schützen.
So bleiben die Rollen der Mutter und der Tochter in der Schwebe: versagt die Mutter der Tochter die Augen und öffnet sie ihr, wenn sie es will und für richtig hält, oder schützt sie die Tochter, indem sie ihr die Augen zuhält; versucht die Tochter sich dem Zugriff der Mutter auf das, was sie sehen und nicht sehen darf, zu entziehen, oder ist sie folgsam und verzichtet darauf, das zu sehen, was sie nicht sehen soll?
Der Betrachter steht im Angesicht dieses Geschehens buchstäblich außen vor. Gleichwohl ist er durch seine Position nicht gänzlich von dem Geschehen getrennt, das sich hinter der Scheibe abspielt. Auch wenn er sich eigentümlicher nicht in der Glasscheibe spiegelt, die ihn vom Inneren des Hauses und den beiden Frauen trennt, wird ihm durch die Möglichkeit, den Garten, der vor der Glasscheibe liegt, in dessen Spiegelbild zu sehen, eine Position innerhalb des Geschehens zugewiesen. Diese Position wird zuletzt dadurch sogar konspirativ, als auch für ihn in der Spiegelung nicht erkennbar ist, was sich am Himmel abspielt.
Fotografie Forum Frankfurt
Resistance & Sensibility
Collezione Donata Pizzi: Women Photographers From Italy
01.02. – 26.04.2020
Bild und Bildquelle
Anna Di Prospero, Selbstporträt mit meiner Mutter (2011)
https://www.fffrankfurt.org
Fundstücke
Benjamin Katz: Berlin Havelhöhe 1960/1961
Ein Mann steht tief im Bild an einer Straßenecke. Er steht im Licht, das zwischen zwei Häusern hindurchscheint. Ein letzes Mal blickt er zurück. Gleich wird er links zwischen den Häusern verschwinden.
„Berlin Havelhöhe 1960/1961“ hieß die Ausstellung, die jüngst im Museum Ludwig in Köln zu sehen war. Das Bild des Mannes an der Straßenecke war eines von 45 Abzügen und insgesamt 318 kleinformatigen Vintageprints, die im Museum Ludwig in einer Sonderausstellung anlässlich des 80. Geburtstage des Fotografen Benjamin Katz gezeigt wurden.
Katz, 1939 in Antwerpen in Belgien geboren, verbrachte 1960/1961 wegen einer Tuberkolseerkrankung anderthalb Jahre im Krankenhaus Havelhöhe im Südwesten von Berlin. In dieser Zeit fotografierte dern den Alltag der Patienenten und Mitarbeiter der Klinik sowie das Gelände und die Gebäude, die im Nationalsozialismus Standort einer Luftkriegsakademie waren. Das Bild des Mannes, der einen letzten Blick zurück wirft, ist exemplarisch für die Fotoreihe „Havelhöhe“, denn Abschied ist das geheime Thema dieser Reihe. Ob es der Mann an der Straßenecke ist, der dem Betrachter einen letzten Blick zuwirft, der junge Mann auf der Treppe, der das Bild gleich nach unten hin zu verlassen scheint, oder Bild des älteren Mannes, der den Betrachter mißtrauisch anblickt: hier werden Menschen gezeigt, die im Verschwinden begriffen sind.
Und dann ist da noch der Mann, der, offensichtlich krank, im Bett eine Zeitung liest und den Betrachter aus dem Bild heraus anschaut: Wie weit ist doch er von der Zuversicht entfernt, die aus der Überschrift spricht, mit der Adenauer in der Zeitung ankündigt: „In 14 Tagen bin ich wieder Kanzler“.
Die Mütze
„Aber ich will sagen, das war letzten Sonntag, nicht heute, und ich will sagen, dass ich heute auf dem Weg eine Mütze gefunden habe, und dass ich diese Mütze jetzt, während ich dies aufschreibe, aufhabe, ja ich habe die gefundene Mütze aus verschiedenen Gründen auf … diese graue, dicke, derbe, schmutzige Mütze, ich habe sie schon so lange auf, dass sie schon meinen eigenen Kopfgeruch angenommen hat … Ich habe sie aufgesetzt, weil ich sie nicht mehr habe sehen wollen. Ich habe sie sofort, nachdem ich wieder zu Hause war, in meinem Zimmer verstecken wollen, im Vorhaus verstecken wollen, und zwar aus wahrscheinlich auch in Zukunft völlig unaufgeklärt bleibenden Gründen; im ganzen Haus habe ich sie irgendwo verstecken wollen, aber ich habe keinen für die Mütze geeigneten Platz finden können, also habe ich sie aufgesetzt. Ich habe sie nicht mehr anschauen, aber auch nicht wegwerfen, vernichten können. Und jetzt bin ich schon mehrere Stunden lang im ganzen Haus umhergelaufen mit der Mütze auf dem Kopf, ohne sie anschauen zu müssen.“
Thomas Bernhard, Die Mütze
Portugal
Jede Reise hat einen Anfang und ein Ende. Unsere Reise beginnt und endet in einem kleinen Küstenort, wenige Kilometer nördlich von Porto.
Vila Chã: Eher aus praktischen Gründen verbringen wir hier die ersten beiden Tage. Unseren kleinen Camper haben wir am Stadtrand von Porto entgegengenommen und wir wollen nicht gleich weiter fahren. Am zweiten Tag kommen wir in der kleinen Strandbar des Ortes mit einem alten Portugiesen ins Gespräch, der mehrere Jahre in Hamburg gearbeitet hat. Warum wollt Ihr denn überhaupt weiter fahren – dies keine Frage, sondern eher eine Aufforderung hier zu bleiben. Das ist doch nur Arbeit und hier ist der schönste Ort in Portugal. Wir sind etwas amüsiert und fahren am nächsten Morgen weiter.
Über Viana do Castelo und Guimarães geht es in den nächten zwei Wochen in einem Bogen über den Parque Nacional Peneda-Gerês und an Porto vorbei Richtung Süden, Richtung Lissabon. Auf unserer Strecke sehen wir Aveiro, Coimbra, Conimbriga, Peniche, die wunderbaren Strände bei Foz da Arelho, Ericeira und Guincho und Mafra mit seinem Palácio Nacional. Und dann: das alt-ehrwürdig lebendige Lissabon.
Den letzten Abend und die letzte Nacht finden wir uns wieder in Vila Chã, wo wir wir mit Glück das letzte Plätzchen auf dem örtlichen Campingplatz ergattern. Zufall nicht genug, empfiehlt man uns zum Abendessen ein Fischrestaurant am Ort, das Restaurante Caravela. Im Erdgeschoss eine Taverne. Im Fernsehen läuft Fußball. Porto und Chaves werden sich an diesem Abend 1:1 trennen. An den kleinen Tischchen sind sämtliche Stühle in Richtung Fernsehgerät gedreht. Man kennt sich. Hier ist man nicht Gast, sondern Freund unter Freunden. Und direkt gegenüber dem Fernsehgerät ein großformatiges Portrait des Portugiesen, den wir am zweiten Tag keinen Steinwurf entfernt am Strand kennen gelernt haben. Es sind seine Kneipe und sein Restaurant.
Das Essen im Restaurant, das mittlerweile von seiner Tochter geführt wird, es ist fantastisch. Später am Abend, nach einem Stromausfall im Lokal, der die Gäste für Sekunden in der freudigen Erwartung verharren lässt, wie es jetzt wohl weitergeht, und nachdem wir auf einer zusammengefalteten Papiertischdecke eine Nachricht an den Hausherren hinterlassen haben, fragt uns seine Tochter, wo wir ihren Vater denn kennen gelernt haben. Auf unser „Am Strand“ winkt sie verständnisvoll ab, als hätte sie mit keiner anderen Antwort gerechnet: Wo denn sonst, da sitzt er jeden Tag und schaut auf’s Meer. Am schönsten Ort in Portugal.
Mehr Bilder zu Portugal und Portugals Farben hier.
Der Betrachter als Zuhörer
Jeff Walls „The Listener“ von 2015 deutet vieles nur an. Vielleicht spielt die Szene in einem ausgetrockneten Flussbett, vielleicht in einer Art Grube. Im Hintergrund erkennt man ein Stück Mauer, das blau angestrichen ist. Zur rechten Seite steigt ein Böschung an. Der Bildraum ist abgeschlossen und öffnet sich allenfalls nach vorne, zum Betrachter der Szene. Die Lage ist ausweglos.
Es muss heiß sein. Die Sonne steht zum Zeitpunkt des Geschehens hoch und die Personen auf dem Bild werfen nur einen kleinen Schatten. Die Erde ist ausgetrocknet.
Sechs Männer stehen um einen Mann, der mit nacktem Oberkörper am Boden kauert. Er ist die einzige Person auf dem Bild, die ganz dargestellt ist. Und nur von ihr sehen wir auch das Gesicht, da die Figur frontal zur Bildebene abgebildet ist. Kopf und Gesicht des Mannes, der rechts von dem am Boden kauernden Mann steht, sind nur zur Hälfte und nur von hinten zu sehen, da er mit dem Rücken zum Betrachter des Bildes steht. An der linken Bildseite ein weiterer Mann, von dessen Gesicht ein Teil erkennbar ist, da er, hart angeschnitten, direkt aus dem Bild heraus den Betrachter des Geschehens anblickt. Von den übrigen Personen, die rechts und links stehen, sind keine Gesichter zu erkennen. Sie sind durch die Wahl des Bildausschnitts schlicht abgeschnitten.
Das Zentrum des Bildes bilden der am Boden kauernde Mann und der Mann, der rechts von ihm steht und sich leicht zu ihm hinunterneigt. Der linke Arm des stehenden Mannes hängt herab, während der linke Arm des Mannes am Boden wie zum Schutz nach innen gedreht ist. Zu sehen ist also eine Gewaltsituation, die sich offenbar noch in einem frühen Stadium befindet. Die körperliche Gewalt ist zum Zeitpunkt des Geschehens aber offenbar noch begrenzt. Vielleicht gab es bereits erste, verachtende und leichte Schläge. Blut aber ist noch nicht geflossen. Wohin die Eskalation der Gewalt noch führen könnte, ist allenfals angedeutet im Stein, der im rechten Vordergrund hinter dem stehenden Mann auf dem Boden liegt.
Was indes dargestellt ist, ist die verbale Drohung. Deutlich herausgearbeitet ist das linke Ohr des Mannes am Boden. „The Listener“, der Zuhörer: Das ist also zunächst einmal die Figur des Mannes auf dem Boden, der von dem unmittelbar neben ihm stehenden Mann etwas zu hören kriegt.
Wäre dem so, dann wäre das allerdings ein recht zynischer Titel für ein Bild, das die Gewalt darstellt, die ein Einzelner durch eine Gruppe erfährt.
Jeff Wall hat allerdings noch eine andere Zuweisung ins Spiel gebracht. In einem Interview äußert er: „Ich entschied, dass ich gegen den Strich gehen und ihn etwas sagen lassen würde … und außerdem wollte ich, dass jemand zuhört.“ Der Zuhörer ist nach Wall also der Betrachter, den die Figur ganz rechts aus dem Bild heraus anblickt. Der Betrachter kann dabei der Betrachter des fertigen Bildes sein, oder aber der Betrachter, der solche Szenen überhaupt erst Bild werden lässt: der Fotograf. In jedem Fall aber ergeht mit dem Titel die Aufforderung an den Betrachter respektive die Fotografie, die bloße Betrachtung im Hinblick auf eine Anteilnahme am Leiden anderer zu überschreiten.
Jeff Walls Bilder mögen wie Schnappschüsse aussehen. Tatsächllich sind sie jedoch das Ergebnis von aufwändigen Aufnahmeprozessen. Szenen, Bewegungsabläufe, Körperhaltungen und Mimik sind bis ins Detail geplant. Für „The Listener“ aus dem Jahr 2015 studierte Wall über Monate Bilder von Gewaltsituationen. Neben Kunstbildern betrachtete er dabei insbesondere auch Medienbilder, die solche Gewaltsituationen zeigen und mit denen wir tagtäglich konfrontiert sind. Wall selbst bezeichnet diese Herangehensweise als „near documentary“. Was wir in „The Listener“ zu sehen bekommen, ist also in gewisser Weise das Abstraktum eines Bildes, das eine Gewaltszene zeigt, ein Derivat der vielen bildgewordenen Szenen, die wir tagtäglich zu sehen bekommen.
Jean Baudrillard hat unsere Gegenwart bekanntlich als ein Zeitalter der Simulation beschrieben, in dem sich die Welt in einem derart fortgeschrittenen Zustand der Verbildlichung befindet, dass es zunehmend unmöglich wird, den Unterschied zwischen Bild und Wirklichkeit überhaupt noch zu bestimmen. Bilder und Zeichen beruhen laut Baudrillard gerade nicht mehr auf der Nachahmung eines Originals, sondern unterlaufen das Prinzip der mimetischen Nachahmung. Das Bild bildet nichts mehr ab, es verweist als „sein eigenes Simulakrum“ auf keine Realität mehr. Was die Simulation als „Gegenkraft der Repräsentation“ erzeugt, sind Bilder ohne Vorbilder.
Walls „The Listener“ kann vor diesem theoretischen Hintergrund durchaus als kritische Auseinandersetzung mit einem Begriff des Bildes als Simulakrum verstanden werden. Indem Wall versucht, dem Opfen eine Stimme zu geben, indem er dem Bild mit dem Titel einen Zuhörer zuweist, versucht er dem Bild einen Referenten zu geben und es wieder an die Wirklichkeit zu koppeln. Diese Rereferenzierung ist allerdings fragil und erreichbar nur über die im Titel des Bildes gesetzte Ansprache eines Sinnes, der mit dem Bildhaften und der Fotografie nichts zu tun hat. Der Referent, auf den das Bild neuerlich verweisen soll, kann, wie der Titel zum Ausdruck bringt, nur über das Zuhören vermittelt werden. Um das Bild vom Leiden an den Referenten des Leidens wieder anzukoppeln, bedarf das Auge des Ohres.
Jeff Wall. Appearance
Kunsthalle Mannheim
02.06.2018 – 09.09.2018
Bildquelle
Jeff Wall: Appearance. Kunsthalle Mannheim