Schieflagen

Der Einfluss von Henri Cartier-Bresson auf William Egglestons frühe Fotografien ist wiederholt hervorgehoben worden. Zwar finden sich die vielzitierten entscheidenden Augenblicke nicht in seinen Bildern, das Bemühen um eine genaue Bildkomposition verdankt sich aber unzweifelhaft der Beschäftigung mit Cartier-Bresson. Eggleston hat die Bedeutung Cartier-Bressons für ihn in einem wunderbaren Interview, das der Bayrische Rundfunk 2014 mit ihm führte, betont.

Betrachtet man jedoch die Fotografien in dem Fotoband William Eggleston‘s Guide, der 1976 erschien und der Fotografien einer ihm gewidmeten Einzelausstellung im Museum of Modern Art versammelt, so wird, wie als fernes Echo, der Einfluss eines anderen großen Fotografen erkennbar. Es ist Alexander Rodtschenko und dessen Forderung aus den späten 1920er Jahren, die Fotografie müsse, um sich von der Malerei zu emanzipieren, nach neuen Blickwinkeln und Perspektiven suchen. „Wir müssen den Schleier von unseren Augen reißen, der vom Nabel aus heißt“, lautete Rodtschenkos fotografisches Programm.

William Eggleston, Memphis

Die Forderung Rodtschenkos, die Welt „von allen Punkten aus“ abzubilden, greift auch William Eggleston in zahlreichen Fotografien seines Guide auf. Das Titelbild des Guide selbst ist bereits eine Detailaufnahme ganz im Geiste Rodtschenkos.

Und auch die Diagonale, die Rodtschenkos Bilder bestimmte, findet sich bei William Eggleston als kompositorisches Element. Wo Rodtschenko das Programm einer Befreiung der Fotografie von den „reaktionären Perspektiven“ der Malerei mit der ihm eigenen Radikalität umsetzte und Bilder schuf, auf denen Gegenstände und Menschen durch die starke Neigung der Horizontalen zuweilen fast herauszufallen scheinen, setzt William Eggleston die Diagonale allerdings äußerst subtil ein. Auf zahlreichen Bildern des Guide ist es eine kaum merkliche Neigung der Horizontalen, die seinen Bildern von belanglosen Dingen und Allerweltsmenschen etwas Beunruhigendes verleiht. Dinge, Menschen und mit ihnen die Welt befinden sich immer schon in einer Schieflage, aus der heraus sie von einem Augenblick auf den anderen ins Rutschen geraten können.

Bildquelle
Eggleston Trust

Ohne Worte

Roland Barthes führt in Die helle Kammer, dieser ebenso knappen wie einflussreichen Bemerkung zur Photographie, einen Gedanken fort, den er fast drei Jahrzehnte zuvor in dem kurzen Essay Botschaft ohne Code formuliert hat: dass nämlich die Fotografie, weil sie mechanisch entstehe und ihr Abbildungsvorgang nicht durch einen auf Konventionalität beruhenden Code gesteuert werde, „das perfekte Analogon“ des Wirklichen sei und es daher keinen Sinn mache, in ihr nach signifikanten Einheiten zu suchen.

In Die helle Kammer findet sich dieser Gedanke in einer Zweiteilung der Begrifflichkeit- und im übrigen auch des Textes selbst – wieder. Mit Nachdruck scheidet Barthes das punctum vom studium, den beredten Diskurs vom Erschüttertsein. Die Fotografie spricht nicht, sie sticht. Darin ähnelt sie auch dem Haiku, jener japanischen Gedichtform, mit der Barthes die PHOTOGRAPHIE wiederholt auch in seiner Bemerkung  vergleicht: „alles ist bereits da, ohne daß das Verlangen nach einer rhetorischen Expansion oder auch nur die Möglichkeit einer solchen hervorgerufen würde.“

Auch in der Fotografiegeschichte der jüngeren Zeit sind solche Antipoden auszumachen. Dem in jeder Hinsicht geschwätzigen Jeff Wall, der seine Fotografien mit Peritexten und Epitexten umstellt, um ihre Rezeption zu steuern, steht etwa ein William Eggleston gegenüber. Auf die Frage, warum er seinen Fotografien niemals Titel gebe, antwortete er einmal ebenso lakonisch wie präzise: „Es gibt einfach keinen Grund dafür. Ich mag nicht einmal den Ort oder das Datum der Aufnahme angeben. Das hat einfach nichts mit Fotografie zu tun.“