Diskontinuität

punctum bezeichnet in Roland Barthes‘ Begriffspaar punctum|studium den „Stich“, den„kleinen Schnitt“. Wo das studium auf die kulturellen Codes und deren Lesbarkeit im Bild abhebt, umreißt das punctum, das den Betrachter zufällig, nicht steuerbar und in einer unbestimmten/unbestimmbaren Form trifft, die Kontingenz des Bildes.

Die Vektoren von punctum und studium sind einander entgegengesetzt. Hier das studium, das seinen Ausgang vom Betrachter nimmt, der die Codes im Bild entziffert. Dort das punctum, von dem der Stich ausgeht. Das punctum hebt nicht auf kulturelle Codes ab und nimmt auch nicht von ihnen seinen Ausgang. Es beschreibt den Punkt, an dem ein Bild Botschaft ohne Code ist.

Das punctum ist ein diskontinuierlicher Scheitelpunkt, in dem das Bild „buchstäbliches Analogon des Wirklichen“ ist. Er erfüllt sich, technisch gesehen, im Augenblick der Belichtung, in dem der Gegenstand Bild wird. Vor und nach diesem Augenblick wirken Codes, in diesem Augenblick ist das Bild reines Denotat. Philippe Dubois beschreibt diese diskontinuierliche Kontinuität wie folgt:

„Man beachte allerdings auch, dass das Prinzip der Spur, so wesentlich es auch sein mag, nur ein Moment im gesamten fotografischen Ablauf ist. Denn vor und nach diesem Moment der natürlichen Einschreibung der Welt auf die lichtempfindliche Fläche gibt es zutiefst kulturelle, abhängige Gesten. Nur zwischen diesen zwei Serien von Codes, allein im Augenblick der Belichtung selbst, kann das Foto als reine Spur eines Aktes angesehen werden. Nur hier, aber wirklich nur hier greift der Mensch nicht ein und kann auch nicht eingreifen, da er andernfalls den grundlegenden Charakter der Fotografie modifizieren würde. Hier ist ein Riss, ein momentanes Aussetzen der Codes, ein nahezu reiner Index.“

Es ist umso erstaunlicher, dass Barthes der Geste, die mit diesem Augenblick der Belichtung verbunden keine Aufmerksamkeit schenken will. Wenn er zu Beginn von „Die helle Kammer“ die drei Tätigkeiten „tun, geschehen lassen, betrachten“ umreißt, deren Gegenstand ein Foto werden kann, dann teilt er sogleich mit, dass er sich mit der Tätigkeit des Operators, des Fotografen, nicht auseinandersetzen wird – und zwar allein deshalb, weil ihm hier die Erfahrung fehle:

„Zu einer dieser Tätigkeiten hatte ich keinen Zugang, und ich brauchte sie gar nicht zu befragen: ich bin kein Photograph, nicht einmal Amateurphotograph, dafür habe ich zu wenig Geduld. Mir schien, dass die PHOTOGRAPHIE des spectator ihrem Wesen nach auf die, wenn man so sagen kann chemische Enthüllung des Gegenstands zurückging, und dass die PHOTOGRAPHIE des operator im Gegensatz dazu durch das von der Verschlussöffnung der camera obscura ausgeschnittene Bild bedingt war. Aber von diesem Gefühl (oder diesem Wesen) konnte ich nicht sprechen, da ich es nie gekannt hatte“.

Ausgerechnet die Polaroid-Fotografie, die diesen Punkt wie keine andere Form des Fotografierens erfahrbar macht, schließt er dabei als Quelle der Erfahrung dieser Geste aus: „ich muss auf der Stelle sehen, was ich gemacht habe (Polaroid? Amüsant, doch enttäuschend, außer wenn ein großer Photograph sich damit abgibt).“

Auge in Auge

Gibt es eine Wahrheit der Fotografie? Wenige haben sich an dieser Frage so intensiv abgearbeitet wie Roland Barthes.

Barthes träumte von einem bedeutungslosen und unschuldigen Reich der Zeichen, das nicht nur den unmittelbaren Bezug zum Realen bewahrt, indem es den gesellschaftlich und historisch codierten Sprachen entzogen ist, sondern das auch, indem es in die sprachlichen Ordnungen hineinragt, diese überschreiten und außer Kraft setzen sollte. Er träumte davon in seinem Buch über Japan und dem Haiku, jener traditionellen japanischen Gedichtform, in der jedwede Referenz aufgehoben ist. Er träumte davon in Die Lust am Text, in der die „Wollust“ der Lektüre die symbolischen Ordnungen erschüttert und überschreitet. Und er träumte davon in seiner vielfältigen Beschäftigung mit der Fotografie, in der er von seinen frühen Texten bis zu Die helle Kammer eine „Botschaft ohne Code“ verwirklicht sah.

Kennzeichnend für ein Gemälde oder eine Zeichnung ist, so Barthes, ein Stil, der zwischen Wirklichkeit und Abbildung vermittelt. Durch die Art der Bearbeitung wird in der Reproduktion das Dargestellte immer schon mit einem zusätzlichen Sinn aufgeladen. Anders die Fotografie. Beim fotografischen Bild erkennt Barthes eine Dimension, in der die Konnotation zunächst keine Rolle spielt. Die Fotografie ist reines Denotat, „ein buchstäbliches Analogon des Wirklichen“ und befindet sich damit quasi in einem Nullzustand der Bedeutung. Der Grund dafür ist laut Barthes in dem für die Fotografie spezifischen chemisch-physikalischen Herstellungsprozess zu sehen. Barthes schließt damit an Theorien an, die sich bereits in der Frühzeit der Fotografiegeschichte finden, etwa in Talbots The Pencil of Nature, in dem der Zeichenstift der Natur ohne Zutun des Fotografen das fotografische Bild erzeugt.

Dem Mythenkritiker Barthes ist indes nicht entgangen, dass gerade diese Eigentümlichkeit der Fotografie, reine Denotation zu sein, ihrer Naturalisierung für politische und ideologische Zwecke Vorschub leistet. Indem sie als quasi natürliches Zeichen gegen jeden kritischen Zugriff immun sind, sind Fotografien prädestiniert für Verwendungen jedlicher Art: sie scheinen auch dann noch natürlich zu sein, wenn ihre Denotation schon längst von Konnotationen überlagert ist. Barthes beschreibt diese Überformung am Beispiel des Umgangs mit einem veröffentlichten Porträt von sich: „eine ausgezeichnete Photographin machte einmal von mir ein Bild, auf dem ich die Trauer über einen Todesfall abzulesen glaubte, der sich kurz zuvor ereignet hatte: dieses eine Mal gab mich die PHOTOGRAPHIE mir selbst zurück; wenig später fand ich jedoch das gleiche Photo auf dem Umschlag einer Schmähschrift wieder; durch die Arglist des Drucks war mir nichts als ein schreckliches veräußerlichtes Gesicht geblieben, finster und schroff wie das Bild, das die Autoren des Buchs von meiner Sprache vorzeigen wollten.“ Die Unausweichlichkeit der Überformung und Einordnung in andere Zeichenordnungen mag im Übrigen auch der Grund dafür sein, dass man das Bild der Mutter, an dem sich Barthes‘ Bemerkung zur Photographie entfaltet, in Die helle Kammer vergeblich sucht.

Gegen Barthes‘ Anspruch auf eine immanente Bedeutung und Wahrhaftigkeit des fotografischen Bildes, der im Bild die unvermittelte, von der Kultur nicht berührte Kopie der Wirklichkeit sieht, lässt sich allerdings einwenden, dass es die Kultur ist, die den Apparat, mit dem fotografische Bilder aufgezeichnet werden, hervorgebracht hat. Vilém Flusser hat mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass das fotografische Abbilden die Erfüllung eines kulturell vorgegebenen Programms ist. Mit Flusser ließe sich sagen, dass es keine Aufzeichnung außerhalt der Regeln des Programms gibt. Die Optik des Fotoapparats, die die Zentralperspektive durchsetzt, wie auch die Chemie des Films oder die Algorithmen digitaler Techniken codieren den Aufzeichnungsvorgang lückenlos und von Anfang an.
Möglicherweise hat Barthes um des Traums von der reinen Denotation in der Fotografie willen in Die helle Kammer gerade dem Fotografen, also dem Akteur, der das fotografische Bild macht, so wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Die Begründung dafür fällt merkwürdig knapp und etwas abfällig aus: „Zu einer dieser Tätigkeiten hatte ich keinen Zugang, und ich brauchte sie gar nicht zu befragen: ich bin kein Photograph, nicht einmal Amateurphotograph; dafür habe ich zu wenig Geduld: ich muß auf der Stelle sehen können, was ich gemacht habe (Polaroid?Amüsant, doch enttäuschend, außer wenn ein großer Photograph sich damit abgibt). Ich konnte annehmen, daß das Gefühl des operator (und demnach das Wesen der PHOTOGRAPHIE im Sinne des PHOTOGRAPHEN) in irgendeiner Beziehung steht zu dem »kleinen Loch« (stenopäischer Apparat), durch welches er das, was er »einfangen« (überraschen) möchte, besieht, begrenzt, einrahmt und ins Bild bringt.“

Da Barthes auf die „chemische Natur“, die er an anderer Stelle in Die helle Kammer als Bedingung der Möglichkeit der Fotografie exponiert, reines Denotat zu sein, nicht verzichten kann, entzieht er diese mit einem wenig überzeugenden Argument dem Bereich des Operator und schlägt sie einem der beiden ihm verfügbaren Erfahrungsbereiche zu, dem Spectator, also dem Betrachter: „Mir schien, daß die PHOTOGRAPHIE des spectator ihrem Wesen nach auf die, wenn man so sagen kann, chemische Enthüllung des Gegenstands zurückging (dessen Strahlen mit Verzögerung zu mir gelangen), und daß die PHOTOGRAPHIE des operator im Gegensatz dazu durch das von der Verschlußöffnung der camera obscura ausgeschnittene Bild bedingt war.“

Literatur
Roland Barthes: Auge in Auge. Kleine Schriften zur Photographie
Herausgegeben von Peter Geimer und Bernd Stiegler

Aufnehmen | Teilen

In einem kurzen Text für den Le Nouvel Observateur notiert Roland Barthes Ende der 1970er Jahre:

„Noch einmal (obwohl der Nachmittag grau und kalt ist, fast düster) photographiert ein altersloser Japaner den Hintergrund der Place de la Concorde, mit Blick auf die fernen und neutralen Dächer des Grand Palais (eigentlich ist da nicht viel zu sehen). Frage: Betrachten die Japaner manchmal, und im Verlauf welcher Riten, die Photographien, die man sie unaufhörlich aufnehmen sieht? Man ahnt, daß es der Akt ist, der sie begeistert, nicht so sehr das Produkt. Worin sie vielleicht sehr modern sind: das Bild verschwinden zu lassen zugunsten der Aufnahme.“

In diesem Aufnehmen, in dem das Bild und damit die Repräsentation unwichtig wird, ist bereits der heutige Konnex von Aufnehmen und Teilen angelegt. Im Selfie ist dem Aufnehmen als unverzcihtbarer Teil das Zeigen und Teilen an die Seite gestellt.

Manipulationen

Vilém Flusser: Fotograf und Objekt

Vilém Flusser identifiziert bei seiner phänomenologischen Analyse der fotografischen Geste drei wichtige Aspekte: die Suche nach einem Standort, von der aus die Situation zu betrachten ist; die Manipulation der Situation, um sich dem gewählten Standort anzupassen; sowie die kritische Distanz, die den Erfolg oder das Scheitern dieser Anpassung zu sehen gestattet.

Die Manipulation ist Flusser zufolge dabei der Aspekt, der die Geste des Fotografierens am stärksten als Geste kennzeichnet. Insbesondere steuert die Manipulation die Suche nach dem Standort. Eine Manipulation liegt in der fotografischen Geste in mehrfacher Hinsicht vor.

Der Fotograf greift zum einen in technischer Hinsicht „aktiv in den optischen Prozess ein“: indem er beispielsweise die Beleuchtungssituation anpasst, eigene Lichtquellen einführt oder Spezialfilter verwendet. Zum anderen werden der Fotograf und das Objekt selbst in der Aufnahmesituation modifiziert. „Zwischen dem Fotografen und seinem Bildmotiv“, notiert Flusser, „etabliert sich ein komplexes Gewebe aus Aktion und Reaktion (aus Dialog), obwohl die Initiative natürlich aufseiten des Fotografen liegt und der fotografierte Mensch der geduldig (oder auch ungeduldig) Wartende ist. Auf seiner Seite führt dieser zweifelhafte Dialog zu jener Mischung aus Befangenheit und Exhibitionismus (dem Produkt des Umstands, der Mittelpunkt einer objektivierenden Aufmerksamkeit zu sein), die eine ‚aufgesetzte Haltung‘ zur Folge hat (der Wartende erschwindelt das Motiv). Das führt aufseiten des handelnden Fotografen zu jener seltsamen Empfindung, zugleich Zeuge, Ankläger, Verteidiger und Richter zu sein, einer Empfindung des schlechten Gewissens, die sich in seinen Gesten in ein Objekt zu verwandeln. In Anbetracht dessen, dass Fotografieren ein Scheindialog ist, erschwindelt auch er das Motiv.“ Die Manipulation als bestimmender Aspekt des fotografischen Geste ist also erkennbar eine gegenseitige: „eine Situation zu beobachten heißt, sie zu manipulieren, oder anders gesagt, die Beobachtung verändert das beobachtete Objekt. Gleichermaßen gilt, dass eine Situation zu beobachten heißt, eben dadurch verändert zu werden, die Beobachtung verändert den Beobachter. Der Fotograf kann nicht anders, als die Situation zu manipulieren, seine bloße Anwesenheit ist eine Manipulation. Und er kann nicht vermeiden, durch die Situation modifiziert zu werden, die bloße Tatsache, sich darin zu befinden, hat ihn verändert.“

Der Wechsel von der analogen zur digitalen Fotografie ändert an dieser Aufnahmesituation grundsätzlich wenig. Zwar entfallen Manipulationsmöglichkeiten wie etwa die Wahl des Filmmaterials, diese werden aber durch andere wie zum Beispiel softwaregesteuerte Motivprogramme überkompensiert. Hinzu kommen die erweiterten Möglichkeiten der digitalen Bildmanipulation, die zwar erst nach der Aufnahme stattfindet, die aber bereits während der Aufnahmesituation einkalkuliert wird. Unter den Bedingungen der analogen Fotografie waren die Verfahren des Entwickelns, des Vergrößerns und des Retuschierens Techniken, die, wie Flusser formuliert, „außerhalb der Situation“ standen. Unter den Bedingungen der digitalen Fotografie und der augenblicklichen Verfügbarkeit des Bildes noch in der Aufnahmesituation, wird die Bildmanipulation zunehmend Teil der Aufnahmesituation.

Roland Barthes: Objekt, Bild und Betrachter

Flussers Aufmerksamkeit gehört in Die Geste des Fotografierens ganz dem Dialog und der gegenseitigen Manipulation von Subjekt (Fotograf) und Objekt (Gegenstand der Aufnahme). Das materiale Ergebnis dieser Geste, das Bild, wie auch der Betrachter eines Bildes spielen in seiner phänomenologisch ausgerichteten Analyse der fotografischen Geste keine Rolle.

Ganz anders Roland Barthes. Zwar identifiziert auch er in Die helle Kammer die drei Aspekte „tun, geschehen lassen, betrachten“. Den „operator“, also den Fotografen, nimmt er aus Mangel an eigenen Erfahrungen aber sogleich und weitestgehend von den weiteren Betrachtungen aus: „Aber von diesem Gefühl (oder diesem Wesen) konnte ich nicht sprechen, da ich es nie gekannt hatte“. Seine Aufmerksamkeit gilt dem „spectrum“ und dem „spectator“, also dem betrachteten und dem betrachtenden Subjekt, und mit dem betrachtenden Subjekt auch dem materialen Bild.

Nur an einer Stelle gerät der operator / Fotograf in den Blick. Da nämlich, wo Barthes das „PHOTOGRAPHISCHE PORTRÄT“ als ein „geschlossenes Kräftefeld“ definiert, in dem sich die Tätigkeiten, Gefühlsregungen und Absichten von spectrum / Objekt und operator / Fotograf überschneiden: „Vor dem Objektiv bin ich zugleich der, für den ich mich halte, der, für den ich gehalten werden möchte, der, für den der Photograph mich hält, und der, dessen er sich bedient, um sein Können vorzuzeigen.“ Indem Barthes diese vier Größen als „imaginäre Größen“ bezeichnet, bleibt er seiner Perspektive und das heißt dem Ausschluss des operator / Fotografen auch an dieser Stelle aber treu. Das Kräftefeld, von dem er spricht, denkt den operator / Fotografen eben nur als imaginäre Größe, nicht als tatsächlichen Akteur in einem Dialog, wie dies Vilém Flusser tut. Im Mittelpunkt von Barthes Betrachtungen steht die Frage, was die „PHOTOGRAPHIE“ mit dem Betrachteten und dem Betrachter macht.

Wie Vilém Flusser konstatiert auch Barthes, dass der Gegenstand durch die „Geste“ des Fotografen manipuliert wird. Bei Barthes ist diese Manipulation indes in zweifacher Hinsicht verschärft. Die Objektwerdung des Subjekts vor der Kamera, die das Subjekt durch seine „Pose“ miterfüllt, erscheint nicht mehr nur als vergebliche „Hochstapelei“ mit dem Ziel zu Gefallen und ein möglichst gutes und wahrheitsgetreues Bild seiner selbst abzugeben. Was das Subjekt vor der Kamera „im kleinen“ erfährt, wenn es fühlt, wie es vom Subjekt zum Objekt wird, ist „das Ereignis des Todes“. In diesem Sinne kann Barthes im Hinblick auf das Bild als dem materialen Ergebnis und den Betrachtenden auch formulieren, dass der Beigeschmack, der jeder Fotografie eigen ist, „die Wiederkehr des Toten“ ist. Der Tod ist „das eidos“ jeder Fotografie.

Zum anderen zwingt das „Gesellschaftsspiel“, das die Aufnahmesitation regelt, den fotografierten Körper in eine Zeichenordnung, die ihm nicht nur den ersehnten „Nullpunkt“ des „anatomischen Körpers“ versagt. Das Bild seiner selbst ist, einmal im Umlauf gebracht, eben weil es Zeichen ist durch andere beliebig für deren Zwecke verfügbar: „die anderen – der ANDERE – entäußern mich meiner selbst, machen mich blindwütig zum Objekt, halten mich in ihrer Gewalt, verfügbar, eingereiht in eine Kartei, präpariert für jegliche Form von subtilem Schwindel“.

Ohne Worte

Roland Barthes führt in Die helle Kammer, dieser ebenso knappen wie einflussreichen Bemerkung zur Photographie, einen Gedanken fort, den er fast drei Jahrzehnte zuvor in dem kurzen Essay Botschaft ohne Code formuliert hat: dass nämlich die Fotografie, weil sie mechanisch entstehe und ihr Abbildungsvorgang nicht durch einen auf Konventionalität beruhenden Code gesteuert werde, „das perfekte Analogon“ des Wirklichen sei und es daher keinen Sinn mache, in ihr nach signifikanten Einheiten zu suchen.

In Die helle Kammer findet sich dieser Gedanke in einer Zweiteilung der Begrifflichkeit- und im übrigen auch des Textes selbst – wieder. Mit Nachdruck scheidet Barthes das punctum vom studium, den beredten Diskurs vom Erschüttertsein. Die Fotografie spricht nicht, sie sticht. Darin ähnelt sie auch dem Haiku, jener japanischen Gedichtform, mit der Barthes die PHOTOGRAPHIE wiederholt auch in seiner Bemerkung  vergleicht: „alles ist bereits da, ohne daß das Verlangen nach einer rhetorischen Expansion oder auch nur die Möglichkeit einer solchen hervorgerufen würde.“

Auch in der Fotografiegeschichte der jüngeren Zeit sind solche Antipoden auszumachen. Dem in jeder Hinsicht geschwätzigen Jeff Wall, der seine Fotografien mit Peritexten und Epitexten umstellt, um ihre Rezeption zu steuern, steht etwa ein William Eggleston gegenüber. Auf die Frage, warum er seinen Fotografien niemals Titel gebe, antwortete er einmal ebenso lakonisch wie präzise: „Es gibt einfach keinen Grund dafür. Ich mag nicht einmal den Ort oder das Datum der Aufnahme angeben. Das hat einfach nichts mit Fotografie zu tun.“

Michael Frieds Theatralik

Um es vorweg zu sagen: man hat bei der Lektüre von Michael Frieds Warum Photographie als Kunst so bedeutend ist wie nie zuvor den Eindruck, dass es Fried in seinem Buch weniger um die Beantwortung dieser Frage geht, als vielmehr darum sich als Fotografietheoretiker hervor zu tun. Die Geschichte und Theorie der Fotografie seit Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts wird nämlich ausschließlich aus der Perspektive seiner eigenen Kunsttheorie und kunstgeschichtlichen Auffassungen erzählt.

Nun ist das an sich ja noch nicht zu beanstanden. Frieds Buch aber ist durchsetzt von Nennungen und Verweisen auf eigene Schriften und Essays und quillt nur so über von einer Selbstgefälligkeit, die zuweilen nur schwer zu ertragen ist. Was nicht bei drei auf den Bäumen ist, das schert Fried samt und sonders über seinen kunsttheoretischen und kunstgeschichtlichen Kamm, der den Gegensatz zwischen Theatralität und Versunkenheit zum künstlerischen und moralischen Grundkonflikt der Moderne erklärt. Und wenn Diderot, Hegel, Heidegger, Wittgenstein, Barthes oder Susan Sontag bemüht oder Äußerungen von Fotografen zu ihren Werken präsentiert werden, dann nur um die Bedeutung seiner eigenen Theorie der Malerei und Fotografie zu untermauern. Das hat nicht nur Züge der Beliebigkeit. Was Fried zur Gänze ausblendet, ist jene nicht zuletzt für die Fotografie zentrale Frage, wie das Wissen um die Situation oder die Anwesenheit des Betrachters die ‚fotografische‘ Situation und die an dieser Situation Beteiligten, also Objekt, Fotograf und Betrachter verändern. Barthes Die helle Kammer oder Flussers Die Geste des Fotografierens sind wohl kaum verständlich, wenn man sie nicht auch als Versuche liest, mit dieser Frage umzugehen.

Überhaupt: Barthes. Um ihn kommt Fried, der ansonsten wenig Kenntnis von zeitgenössischen Autoren der Fotogeschichte und Fototheorie nimmt, nun wirklich nicht herum. Die Bedeutung, die Fried Barthes beimisst, ist schon allein daran zu erkennen, dass er ihm, im Unterschied etwa zu Susan Sontag oder Rosalind Kraus, ein eigenes Kapitel widmet. Auch in Barthes‘ Buch Die helle Kammer, auf das er sich mehr oder weniger beschränkt, macht Fried dann aber als wesentliche Aussage den „Bezug zur zentralen Strömung oder Tradition des antitheatralischen kritischen Denkens und der bildlichen Präsentation“ aus. Barthes habe in seinen Bemerkungen zur Fotografie das „Ansinnen Diderots oder auch aller Kritiker und Theoretiker des 18. und 19. Jahrhunderts“ sogar noch übertroffen, da sein Begriff punctum „eine Art ontologischer Garantie“ impliziere, dass eine Fotografie nicht als antitheatralisch intendiert ist. Fried, der 1967 mit seinem Essay Kunst und Objekthaftigkeit bekannt wurde, sieht sich denn auch zumindest auf gleicher Augenhöhe mit Barthes. Seine Frage, ob es denkbar wäre, „dass die wesentlichen nahezu unbeschreibbaren Eigenschaften, die Barthes und ich in bestimmten Photographien und bestimmten abstrakten Gemälden und Skulpturen jeweils entdeckt zu haben glaubten, letzten Endes dieselben sind“, ist wohl als rhetorische Frage zu verstehen. Was den Unterschied ausmache, das ist, so Fried, dass Barthes seine eigene Argumentation nicht zu Ende gedacht habe. Wie Barthes “die Logik oder Analogie, die Die helle Kammer mit Prousts unsterblichem Meisterwerk verbindet”, entgehe, so entgingen ihm nämlich auch die Konsequenzen der eigenen Argumentation. Wofür Fried auch gleich eine Erklärung hat. Wenn er am Ende des Kapitels Barthes’ punctum über die Möglichkeit räsoniert, Barthes‘ Werk auf den “Stellenwert der Antitheatralität” abzuklopfen, dann heißt es mit unverkennbar süffisantem Unterton: “Angesichts der mehrfachen intellektuellen Kehrtwendungen, die Barthes im Lauf seines Lebens vollzog, sowie in Anbetracht der Tatsache, dass ihm selbst in der Die helle Kammer die Bedeutung wesentlicher Argumente und Unterscheidungen in letzter Konsequenz entgeht, wäre das kein leichtes Unterfangen.”

So beschleicht einen bei der Lektüre alles in allem der Eindruck, dass hier, was nicht passt, passend gemacht wird. Und wenn’s dann doch mal nicht so recht klappern will, dann lässt Fried eine offene Frage auch mal einfach stehen und überlässt das weitere Nachdenken dem geneigten Leser. Aber zum Glück weiß der nach spätestens 100 Seiten ja eh, wie der Hase in der Kunst läuft oder besser: zu laufen hat. Eine Kostprobe: „Ich lasse die Frage offen, inwieweit sich die Trennung der Welten, die ich in den anderen hier erörterten Museumsbildern Thomas Struths entdeckt zu haben glaube, auch in dieser Photographie eindeutig manifestiert.“ Auch das aber ist, wie gesagt, nicht weiter tragisch, da im Prinzip ja eh klar ist, was in allem gemeint ist, auch wenn das natürlich außer Fried so recht noch keiner begriffen hat. Noch einmal Michael Fried: „man kann sogar sagen, dass diese Werke – wie auch diejenigen der anderen in diesem Buch erörterten Photographen – zu einer ernsthaften Rückbesinnung auf antitheatralische Werte und zu einem Wiedererstarken der antitheatralischen Sensibilität führten, und zwar nicht nur bei den eben genannten Kritikern, sondern auch bei einem beträchtlichen Teil der kunstverständigen Öffentlichkeit – auch wenn all dies praktisch noch nicht ins allgemeine Bewusstsein vorgedrungen ist.“

Dem Himmel sei Dank, möchte man ausrufen, das das endlich raus ist! Womit auch Frieds Frage „Warum Photographie als Kunst so bedeutend ist wie nie zuvor“ beantwortet wäre: weil sie ein weitere Beleg für die Gültigkeit seiner eigenen Theorie ist. Man kann es nicht anders sagen: etwas weniger Theatralik in eigener Sache hätte Michael Frieds Buch vermutlich sehr gut getan.

Ach ja, da war doch noch was: die im Frühjahr dieses Jahres im Verlag Schirmer/Mosel erschienene deutsche Ausgabe ist sehr schön aufgemacht und beinhaltet 278 Abbildungen in Farbe und Duotone von allem, was in der zeitgenössischen Fotografie Rang und Namen hat. Das entschädigt dann doch für die eine oder andere Zumutung beim Lesen.

Michael Fried: Warum Photographie als Kunst so bedeutend ist wie nie zuvor. 433 Seiten. Verlag Schirmer / Mosel. Deutsche Erstausgabe, April 2014

Beiseite sprechen

In den ersten Wochen des Jahres 1980 bereitete Barthes ein Seminar zum Thema Proust und die Photographie vor. Die wenigen Sitzungen des Seminars, das seiner Vorlesung in diesem Studienjahr folgen sollte, wollte er darauf verwenden, mit einem Diaprojektor Fotografien des Fotografen Paul Nadar vorzuführen.

Ziel des Seminars war es nicht, die Beziehungen Prousts zur Fotografie aufzudecken. Zwar wollte Barthes von biographischen Notizen ausgehen, die er Standardwerken zu Proust entnommen hatte. Das Seminar sollte jedoch, wie er bemerkt, „nur Ausstellung von Materialien, ohne begriffliche Arbeit“ sein. Was Barthes erreichen wollte, war eine „Intoxikation“ der Seminarteilnehmer durch die vorgestellten Bilder. Begleitender Kommentare wollte er sich dabei weitgehend enthalten.

Der Absicht die Teilnehmer unvermittelt zu verzaubern entspricht auch, dass das Seminar, entgegen den üblichen Gepflogenheiten, „keine gemeinsame Beschäftigung“ mit dem vorgestellten Bildmaterial sein sollte. Die Seminarteilnehmer sollten vielmehr in einen eigenen Dialog mit den gezeigten Bildern treten: „Jeder führt einen Dialog in petto mit den Photos.“.

Im Zentrum von Barthes Gedanken über die dem Bild „eigentümliche Wirkung“ steht dabei der Begriff der Faszination. Wenn das Bild nach Barthes „ontologisch“ das ist, „worüber man nichts sagen kann“, dann ist die ihr entsprechende Wirkung die Faszination, da Barthes zufolge fasziniert sein bedeutet, „nichts mehr zu sagen zu haben“. „Die wenigen Worte, die ich dazu sagen werde“, so Barthes, „ zeigen etwas anderes an als das, was ich sage; ich werde nicht dort sprechen, wo es ist; ich spreche beiseite; darin liegt das Eigentümliche der FASZINATION“.

Die vorbereitenden Ausführungen zum Seminar Proust und die Photographie führen mit diesen Bemerkungen fort, was in Barthes Die helle Kammer und auch in früheren Texten zur Fotografie bereits angelegt ist. Wenn Barthes im 21. Abschnitt der Hellen Kammer die Fotografie mit dem Haiku vergleicht, dann deshalb, weil beide ihrem Wesen nach etwas sind, „was nicht entwickelt werden kann“. Wie bei einem Haiku ist auch bei der Fotografie „alles bereits da, ohne daß das Verlangen nach einer rhetorischen Expansion oder auch nur die Möglichkeit einer solchen hervorgerufen würde: weder das HAIKU noch das PHOTO lassen einen ins Schwärmen geraten.“

Bewirkt das Haiku eine Befreiung von Sinn, so ist die Fotografie ihrem Wesen nach ein reines Denotat. Noch einmal: warum dann aber ein Seminar?

Der Abschnitt in der Hellen Kammer, in dem die Ähnlichkeit zwischen Fotografie und Haiku festgestellt wird, schließt noch mit einer emphatischen Selbstvergewisserung, die eine Traditionsbildung nachdrücklich ausschließt: „ich bin ein Wilder, ein Kind – oder ein Verrückter, ich lasse alles Wissen, alle Kultur hinter mir, ich verzichte darauf, einen anderen Blick zu beerben.“ Im Manuskript zu dem geplanten Seminar, ist der Gedanke an eine Weitergabe, wenn nicht von Wissen, so doch von Erfahrung, dann aber durchaus erkennbar. Die Teilnehmer, so Barthes, „sollen sich dem Zauber, dem schleichenden Gift einer Welt ergeben, so wie ich mich von diesen Bildern und Proust sich von ihren Originalen verzaubern ließ.“

Das Seminar, das Barthes in seinem Manuskript entwarf und das als „eine Art praktischer Arbeiten“ konzipiert war, beschreibt damit auch die Utopie, wie von Fotografien, die als reine Denotate von keinem informierten Diskurs, dem studium, erreicht werden können, vermittelbar gehandelt werden kann.

Barthes selbst wollte sich bei der für das Seminar geplanten Präsentation der Bilder so weit wie möglich zurücknehmen: „Ich werde bei dieser Präsentation abwesend sein“, heißt es in diesem Sinne in seinem Manuskript. Das Seminar fand bekanntlich nicht mehr statt. Ende März 1980 starb Barthes an den Folgen eines Verkehrsunfalls.

Die Augen schließen

„Die Augen schließen bedeutet, das Bild in der Stille zum Sprechen zu bringen.“

Roland Barthes identifiziert in der Hellen Kammer bei seinem Versuch, das Wesen der Fotografie zu ergründen, zwei Haltungen, die der Betrachter Fotografien gegenüber einnimmt: studium und punctum.

Mit studium bezeichnet er die Haltung, in der sich ein Betrachter interessiert und beflissen, aber „ohne besondere Heftigkeit“, Fotografien zuwendet. Das punctum dagegen bezeichnet ein Element, das den Betrachter gegen seinen Willen aufsucht und das studium durchbricht und aus dem Gleichgewicht bringt. Die Überwältigung des souveränen Bewußtseins durch das punctum wird dabei gekennzeichnet als „Verletzung“, „Stich“, „Mal“ oder „Schnitt“.

Gegen Ende des ersten Teils seiner Bemerkungen zur Photographie unternimmt Barthes dann den Versuch, die Merkmale des punctum zu bestimmen. Was im Sinne des punctum „besticht“ sind das absichtslose Detail; die Erschütterung, die sich nicht entwickelt, sondern einfach und „ohne Verlangen nach einer rhetorischen Expansion“ da ist; die Unbenennbarkeit, die untrügliches Anzeichen für die durch das punctum verursachte „innere Unruhe“ ist; das blinde Feld, das sich durch die Anwesenheit eines punctum bezeugt und das den Betrachter versichert, das der, der auf der Fotografie abgebildet ist ein ganzes Leben besaß, das sich außerhalb des Porträts abspielte.

James Van der Zee, Familienporträt (1926)

Von besonderer Bedeutung ist jedoch das Merkmal, das Barthes im 22. Abschnitt seiner Bemerkungen nennt: die Verzögerung, mit der der Betrachter dem punctum zumindest hin und wieder erst auf die Spur kommt. Diese Verzögerung steht nicht nur in Wiederspruch zur Unmittelbarkeit des punctum. Mit ihr verschiebt sich auch der Schwerpunkt entschieden vom Sehen auf das Denken, das allerdings nichts mit „irgendeiner genauen Untersuchung“, also dem studium, zu tun habe. Das Sehen erscheint nun sogar als ein Vorgang, der in besonderer Weise das studium auslöst: „Es kann“, so Barthes, „vorkommen, daß ich ein Photo, an das ich mich erinnere, besser kenne als eines, das ich vor mir sehe, so als ob der unmittelbare Anblick die Sprache in die Irre führte, ihr die Mühe der Beschreibung abverlangte, die stets den springenden Punkt der Wirkung, das punctum, verfehlen wird“.

Barthes zieht daraus den überraschenden Schluss, dass das Wegschauen die angemessenste Weise ist Fotografien zu betrachten: „Im Grunde – oder äußerstenfalls – ist es besser, den Kopf zu heben oder die Augen zu schließen, wenn man ein Photo betrachten will: nichts sagen, die Augen schließen, das Detail von allein ins affektive Bewußtsein aufsteigen lassen.“ Die richtige Art, ein Bild zu betrachten, ist also das „zweite Gesicht“, eine Betrachtung mit dem geistigen Auge.

Ein Beispiel für eine solche Betrachtung mit dem zweiten Gesicht – und zugleich auch das einzige Bild, bei dem Barthes ein schon identifiziertes punctum korrigiert – ist die Fotografie Familienporträt von James Van der Zee. Hatte Barthes bei diesem Bild das punctum nur wenige Seiten zuvor im Detail eines weiten Gürtels ausgemacht, so erscheint ihm nun als das „wahre punctum“ eine Kette, die eine der abgebildeten Frauen trägt.

Gespenster

Geister und Gespenster gehen in der Fotografie schon immer um.

Seit der Erfindung der Fotografie ist das Pandämonium der Geisterfotografie stetig gewachsen. Eine Kleine Metaphysik der Photographie versammelt, was aus heutiger Sicht absonderlich erscheint: Aura- und Kirlianphotographien, Elfen- und Feenbilder, Fotografien von Marienerscheinungen und Materialisationen, Geisterfotografien.

Geisterfotografien spielten dabei vor allem im Spiritualismus eine wichtige Rolle. Der Spiritualismus, der Mitte des 19. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten entstand, sah in der Fotografie ein Mittel, den Glauben an das Weiterleben der Seele nach dem Tod mit Hilfe der Fotografie empirisch und wissenschaftlich zu beweisen. Die Fotografie galt als das ideale Instrument spiritualistischer Aussagen und einer empirischen Metaphysik. Bevor sich die Fotografie in einer zweiten Phase der Fotografie des Übersinnlichen mit Baraduc, Darget oder de Rochas den Strahlenaktivitäten der Seele, der Gedanken oder des Körpers zuwandte, entstanden zwischen 1861 und 1877 tausende geister- und mediumistische Fotografien, zumeist Porträts, auf denen Lichtphänomene oder menschliche Gestalten erschienen. Die wohl bekanntesten Geisterfotografien stammen von dem angesehenen britischen Wissenschaftler William Crookes, der 1874 zahlreiche Sitzungen mit dem Medium Florence Cook fotografierte. Erst nachdem sich die Röntgenfotografie in der Medizin durchgesetzt hatte, verschwanden auch die Geisterfotografien allmählich. Es finden sich allerdings noch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts zahlreiche Spielarten, die die Tradition der Geisterfotografien zum Teil bestätigend, zum Teil ironisch aufnehmen.

Das Dispositiv, das diese eigentümliche Verknüpfung von rationaler Wissenschaft und Spiritualismus ermöglicht, ist die Überzeugung, dass sich auf der fotografischen Platte die Natur unmittelbar einschreibt und die Fotografie daher in jedem Fall die Spur von etwas ist. Dass auf einer Fotografie etwas aufgezeichnet worden sei, galt insbesondere im 19. Jahrhundert als unumstößlich. Streit entbrannte allenfalls darüber, wie das fotografisch Abgebildete zu deklarieren sei. Die Anziehungskraft der Fotografie für den Spiritismus verdankt sich mit anderen Worten dem magischen Vermögen, das der Fotografie zugesprochen wurde: dass sie zwischen Gegenstand und Bild eine mediumistische und zugleich naturwissenschaftlich erklärbare Beziehung herstellen kann.

Gespenster geistern aber nicht nur in den Geisterfotografien eines William Crookes, William Mumler oder William Pierce herum. Das Gespenst ist auch eine Denkfigur in vielen Texten zur Theorie der Fotografie. Siegfried Kracauer und Roland Barthes sind nur zwei Autoren, in deren Texte der Begriff des Gespenstes auf je eigene Weise eine wichtige Rolle spielt.

Barthes / Flusser

Das Fenster: Für Roland Barthes ist es Sinnbild für die vollständige Transparenz der Fotografie im Hinblick auf ihren Referenten. Für Vilém Flusser Ausdruck des Irrglaubens, technische Bilder seien objektiv.

Von Nicéphore Nièpce stammt die erste, heute noch erhaltene Fotografie. Die Heliographie, die er 1827 auf seinem Landgut Le Gras in Saint-Loup-de-Varennes aufnahm, zeigt einen Blick aus dem Fenster seines Arbeitszimmers.

In der Kunst- und Fototheorie wurde Point de vue Gras und mit ihr die Fotografie deshalb verschiedentlich im Kontext der Malerei gedeutet. Nièpce Heliographie belege, dass die Fotografie in ihrer Geburtsstunde in der Tradition und damit auch in Konkurrenz mit der von der Fluchtpunktperspektive bestimmten Malerei stand, die deren Begründer Alberti zu Beginn des 15. Jahrhunderts als „offenes Fenster“ beschrieben hatte.

Dass die Aufnahme von einem Innenraum heraus ins Freie gemacht wurde, ist indes auch dem verwendeten technisch-apparativen Verfahren geschuldet. Schon allein aus praktischen Gründen war der Blick aus dem Innenraum heraus das erste fotografische Sujet. Eine ausreichende Belichtung wäre ohne die lang anhaltende Lichtquelle eines Fensters nicht möglich gewesen. Die Aufnahme, die Nièpce in einer Camera Obscura machte, benötigte wegen der Lichtunempfindlichkeit der verwendeten Trägerschicht, einer Platte mit ölbehandeltem Asphalt, mehr als acht Stunden Belichtungszeit. Point de vue Gras reflektiert also auch die technische Apparatur und die von ihr gestellten Anforderungen.

Roland Barthes

Mehr als 150 Jahre später greift Roland Barthes die Metapher des Fensters wieder auf, wenn er in der Hellen Kammer das Wesen der Fotografie im „Eigensinn des Referenten“ sieht, „immer da zu sein“. „Die PHOTOGRAPHIE“, schreibt Barthes, „gehört zu jener Klasse von geschichteten Objekten, von denen man auch nicht zwei Blätter abtrennen kann, ohne sie zu zerstören: die Fensterscheibe und die Landschaft“. Ein Dualismus, der laut Barthes zwar fassbar, aber nicht wahrnehmbar ist.

Diese Transparenz, deren Sinnbild das Fenster ist, ist bei Barthes verbunden mit der Ausklammerung des physikalischen Anteils an der Fotografie. Zwar stellt Barthes fest, dass die Fotografie in „technischer Hinsicht“ „am Kreuzweg zweier vollkommen verschiedener Prozesse“ steht, nämlich der Chemie und der Physik. Wie der operator, der Fotograf, dem „die Entstehung des Bildes mittels einer optischen Vorrichtung“, zugeordnet wird, findet aber auch der physikalische Teil der Apparatur in der Hellen Kammer so gut wie keine Berücksichtigung.

Mit dem Hinweis „ich bin kein Fotograf“ und der abschätzigen Bemerkung, „daß das Gefühl des operator in irgendeiner Beziehung steht zu dem ‚kleinen Loch‘ (stenopäischer Apparat)“ wird der Fotograf von den weiteren Überlegungen weitgehend ausgeklammert. Wenn von ihm im weiteren Verlauf überhaupt noch die Rede ist, dann nur geringschätzig: seine „wesentliche Handlung“ bestehe darin, „etwas oder jemanden zu überraschen (durch das kleine Loch im Gehäuse)“. Eine Überraschung, die Barthes keinen Wert beimisst.

Camera LucidaDer Fotoapparat wiederum, in dessen dunklem Inneren die Belichtung erfolgt, wird ersetzt durch ein quasi natürliches Relais, in dem der Prozess der Abbildung offen sichtbar ist und das am Ende der Bemerkungen zur Photographie diesen noch ihren Namen gibt: Helle Kammer. „Zu Unrecht“, resümiert Barthes, „bringt man die Fotografie, aufgrund ihres technischen Ursprungs, mit der Vorstellung eines dunklen Durchgangs in Zusammenhang (camera obscura). Man müßte camera lucida sagen (so wurde ein Apparat genannt, ein Vorläufer der Kamera, mit dessen Hilfe man einen Gengenstand durch ein Prisma hindurch zeichnen konnte, das eine Auge auf die Vorlage, das andere auf das Papier gerichtet)“.

Der Grund für diese Ausklammerung liegt Barthes zufolge letztlich darin, dass es bei der Bestimmung des Wesens der Fotografie nicht um die Frage gehe, ob die Fotografie ein Analogon der Welt ist und ob „die photographische Optik der (ganz und gar historischen Perspektive Albertis) untergeordnet ist und die Belichtung der Filmschicht aus einem dreidimensionalen Gegenstand ein zweidimensionales Bild macht“. Diese namentlich von Soziologen und Semiologen geführte Debatte sei „fruchtlos“. Und zwar nicht, weil sich „das analogische Wesen“ der Fotografie nicht von der Hand weisen lasse, sondern weil „das Noema der PHTOTOGRAPHIE mitnichten in der Analogie zu suchen“ ist, sondern in der „Zeugenschaft der PHOTOGRAPHIE“, in ihrem „Es-ist-so-gewesen“.

Vilém Flusser

Barthes Name fällt in Flussers für eine philosophie der fotografie nicht. Die Helle Kammer ist jedoch unüberhörbar Flussers Bezugspunkt: „Die seitens der technischen Bilder scheinbar bedeutete Welt scheint ihre Ursache zu sein und sie selbst ein letztes Glied in einer Kausalkette, die sie ohne Unterbrechung mit ihrer Bedeutung verbindet: Die Welt reflektiert Sonnen- und andere Strahlen, welche mittels optischer, chemischer und mechanischer Vorrichtungen auf empfindlichen Oberflächen festgehalten werden und als Resultat technische Bilder hervorbringen, das heißt sie scheinen auf der gleichen Wirklichkeitsebene zu liegen wie ihre Bedeutung.“

Demgegenüber stellt Flusser apodiktisch fest: „Das technische Bild ist ein von Apparaten erzeugtes Bild.“ Dass technische Bilder einen unsymbolischen, objektiven Charakter haben, sei „eine Täuschung“, die sich insbesondere in der irrtümlichen Neigung zeigt, Bilder „nicht als Bilder, sondern als Fenster“ zu betrachten.

Flusser spricht sich damit nicht nur gegen eine ontologische Auffassung der Fotografie aus, wie sie von Barthes vertreten wird. Sein „Versuch“ bezieht im Begriff des Apparates ausdrücklich auch den physikalischen Teil mit ein. Was gebraucht werde, ist eine Kritik der technischen Bilder, die alle apparativen Aspekte berücksichtigt, die bei ihrer Erzeugung eine Rolle spielen. In Anlehnung an Walter Benjamins Verdikt in der Kleinen Geschichte der Photographie, „dass nicht der Schrift-, sondern der Photographieunkundige der Analphabet der Zukunft sein wird“, formuliert Flusser: „Die Codierung der technischen Bilder geht aber nun einmal im Inneren dieser Black Box ‚Apparat/Operator‘ vor sich, und folglich muß jede Kritik der technischen Bilder darauf gerichtet sein, ihr Inneres zu erhellen. Solange wir über eine derartige Kritik nicht verfügen, bleiben wir, was die technischen Bilder betrifft, Analphabeten.“