Fenster

Blindheit

Schon bald nach der Erfindung der Fotografie wurde dieser vorgeworfen, sie bilde nur die leichenhafte Oberfläche ab und dringe nicht zum Wesen des Abgebildeten vor. Die piktorialistische Kunstfotografie begegnete diesem Vorwurf bekanntlich mit der Anwendung besonderer Aufnahmeverfahren und Drucktechniken sowie einem Kompositionsverfahren, das sich dezidiert an der Malerei orientierte. Die von den Kritikern bemängelte Darstellungsgenauigkeit sollte so reduziert und der Fotografie der angeblich fehlende Raum für die Einbildungskraft des Betrachters zurückgegeben werden.

Paul Strands Blind Woman, das in 1917 der letzten Ausgabe der berühmten Fotozeitschrift Camera Work erschien, stellt einen Bruch mit der selbstgewählten Blindheit des Piktorialismus dar. Es steht exemplarisch für eine fotografische Praxis und Theorie, die um 1920 insbesondere dem Piktorialismus vorwarf, blind für die Welt der Erscheinungen zu sein. Das neue Sehen, das unter dem Namen Straight Photography bekannt wurde, wollte demgegenüber nicht nur eine neue Perspektive auf die Wirklichkeit eröffnen, es verstand sich vielmehr als „Wirklichkeitserschließung sui generis“ im Geiste der Wissenschaft. Das erklärte ästhetische Ziel war die sachliche, klare Objektivität in der Darstellung. Die „absolute und unbestimmte Objektivität“, so Strand, macht „den wahren Wesensgrund der Fotografie“ aus. Fotografie sei „der einzige bedeutende Beitrag der Wissenschaften zu den Künsten“.

Der Fotograf selbst sollte sich in diesem Prozess zurücknehmen, also unsichtbar werden. Das Fotografieren sollte, so Strand, ein „fotografieren, ohne selber gesehen zu werden“ sein. In Blind Woman ist dieses neue Sehen-ohne-gesehen-zu-werden programmatisch in ein Bild gefasst. Paul Strand, Blind Woman (1916)

Strand greift mit seiner Aufnahme einer blinden Frau, die zu einer der einflussreichsten Fotografien des frühen 20. Jahrhunderts zählt und deren Einfluss über Walker Evans bis zu Luc Delahaye reicht, auf ein Thema zurück, das für die Malerei seit Mitte des 18. Jahrhunderts von großer Bedeutung ist. Der Kunsthistoriker Michael Fried hat in Absorption and Theatricality. Painting and Beholder in the Age of Diderot die Vorliebe der Malerei für dieses Sujet darauf zurückgeführt, dass es in idealer Weise deren antitheatralischen Ausrichtung entgegenkomme, da sich ein blinder Mensch problemlos so darstellen lasse, als sei er sich des Beobachtetwerdens nicht gewahr.

Die Fotografie Strands verdeutlicht in ihrer Programmatik allerdings auch, dass ein Sehen / Fotografieren, ohne gesehen zu werden, letztlich auf einem Schwindel beruht. Und das nicht nur hinsichtlich der Technik, die Strand, Evans oder Delahaye bei Ihren Aufnahmen einsetzten, um die Porträtierten unbeobachtet fotografieren zu können: Strand verwendete für seine Aufnahmen eine Art Winkelobjektiv, Evans verbarg seine Kamera unter seinem Mantel, wobei das Objektiv zwischen zwei Mantelknöpfen herauslugte.

Walker Evans, Blind accordion player (1938)Grundsätzlicher ist der Vorbehalt, den Vilém Flusser in Die Geste des Fotografierens gegenüber einem solchen Vorgehen formuliert. Zwar erweist sich das „komplexe Gewebe aus Aktion und Reaktion“, das sich beim Fotografieren zwischen dem Fotografen und seinem Bildmotiv einstellt, bei näherem Hinsehen als ein „Scheindialog“, da die Rollenverteilung hierarchisch ist: hier der Fotografierte, der auf die Situation mit einer „Mischung aus Befangenheit und Exhibitionismus“ reagiert; dort der Fotografierende mit seiner „seltsamen Empfindung, zugleich Zeuge, Ankläger, Verteidiger und Richter zu sein, einer Empfindung des schlechten Gewissens“. Weshalb der Fotograf auch versucht, „sein Motiv in einem unbewachten Moment zu überraschen, um es in ein Objekt zu verwandeln“, und so sein Motiv letztendlich „erschwindelt“.

Luc Delahaye, L'Autre (1999)Luc Delahaye hat die Aufnahmesituation für die Fotografien von Fahrgästen in der Pariser Métro für sein Buch L’Autre denn auch wie folgt beschrieben: „Ich sitze jemandem gegenüber, um sein Bild zu machen, eine Form von Beweismittel, aber genau wie er starre ich in die Ferne und tue so, als wäre ich nicht da. Ich versuche, wie er zu sein. Das Ganze ist eine einzige Heuchelei, eine notwendige Lüge, die lange genug währt, um ein Bild zu machen.“

Jenseits des bloßen Nicht-gesehen-werden-könnens besteht Flusser zufolge zwischen Fotografierendem und Fotografierten aber eine Situation, aus der keiner der beiden Teile austreten kann und die beide wechselseitig bestimmt und beeinflusst: „Der Fotograf kann nicht anders, als die Situation zu manipulieren, seine bloße Anwesenheit ist eine Manipulation. Und er kann nicht vermeiden, durch die Situation modifiziert zu werden, die bloße Tatsache, sich darin zu befinden, hat ihn verändert.“

Was Flusser kritisiert, ist ein „bestimmter Sinn des Begriffs Objektivität“, der in der Wissenschaft gebräuchlich ist und der auch die Fotografie programmatisch immer wieder bestimmte, der aber an der grundsätzlichen situativen Verklammerung von Betrachter und Betrachtetem, Fotograf und Fotografiertem vorbeigeht. Die „Objektivität der Fotografie“ zeigt sich demgegenüber und paradoxerweise gerade in der Manipulation: „Die Objektivität eines Bildes (einer Idee) kann gar nichts anderes als das Ergebnis der Manipulation (der Beobachtung) irgendeiner Situation sein. Jede Idee ist insofern falsch, als sie das von ihr Erfaßte manipuliert und in diesem Sinn ist sie ‚Kunst‘, das heißt Fiktion.“ Dass es laut Flusser „in einem anderen Sinn wahre Ideen“ gebe, „nämlich dann, wenn sie das von ihnen Betrachtete wirklich erfassen“, wirft allerdings die Frage auf, unter welchen Kriterien denn ein Sachverhalt wirklich erfasst ist.

Ugo Mulas: Verifika

Jean Baudrillard zufolge ist die Geschichte des Bildes eine Geschichte der Verwandlung der Illusion der Realität in ihre Simulation. Wurden in der Frühzeit der Fotografie Bilder als bildliche Materialisation der Gegenstände betrachtet, so bezeichnet für Baudrillard das Simulakrum ein Bild, für das die Kategorien von Original und Kopie überflüssig geworden sind. Vollends erfüllt die digitale Fotografie die Bedingungen dieses Simulakrums. Denn während die Fotografie im analogen Zeitalter die Realität als Faksimile und Ebenbild repräsentierte, ist sie unter den Bedingungen des Digitalen zu einem Simulakrum geworden, das die Wirklichkeit absorbiert hat und zur neuen Wirklichkeit geworden ist.

Diese Geschichte des Verschwindens der Illusion der Realität wurde unter dem Aspekt der Auflösung der Referenz zwischen Bild und Wirklichkeit auch in der Fotografie der 1970er Jahre thematisiert. So hat etwa der italienische Fotograf Ugo Mulas in seiner Verifica-Serie versucht, die Eigenart des Fotografischen im fotografischen Bild selbst zu reflektieren, um die Voraussetzungen, Möglichkeiten und Grenzen der – damals noch analogen – Bildtechnologie zu veranschaulichen und auf den trügerischen Bezug von Bild und Wirklichkeit hinzuweisen. Mulas bezieht sich dabei ausdrücklich auf Nicéphore Nièpce und dessen Heliographie Point de vue Gras, die 1827 entstand und als erste, noch heute erhaltene Fotografie gilt.

Mit Ugo Mulas‘ Ommagio a Niepce steht einmal mehr auch das Fenster im Mittelpunkt einer Auseinandersetzung mit der Fotografie. Auf einem pechschwarzen Grund, akzentuiert durch eine dünne weiße Linie, die zeichenhaft auf den Fensterrahmen in Nièpces Heliographie verweist, ist ein 35mm-Kleinbildfilm zu sehen, der in sechst Streifen zerschnitten zu einem Rechteck zusammengefügt ist und auf Fotopapier kontaktkopiert wurde. Die 36 Aufnahmen des Kleinbildfilms sind zwar entwickelt und fixiert, aber unbelichtet, zeigen also nichts als kleine, schwarze Flächen. Die weiße Linie entstand bei der Belichtung des Kontaktpapiers durch den Lichtsaum der Glasplatte, die für die Aufnahme auf die Filmstreifen gelegt wurde, um diese auf das Fotopapier zu pressen.

 

Es ist diese Blindheit der Filmstreifen, die den bildanalytischen Kern von Ommagio a Niepce ausmacht. Ugo Mulas‘ Bild ist dadurch augenscheinlich dysfunktional im Hinblick auf die der Fotografie zugeschriebene Funktion, Wirklichkeit zu repräsentieren.

Möchte man über die Fotografie als Fenster zur Wirklichkeit nachdenken, das legt Mulas Fotografie Ommagio a Niepce nahe, dann darf man nicht durch das Fenster hindurchschauen, sondern muss auf das Fenster selbst sehen. In diesem Sinn wird die Verifica-Serie durch eine Fotografie abgeschlossen, die sich ebenfalls auf ein Fensterbild bezieht. Ugo Mulas‘ Fine delle verifiche. Per Marcel Duchamp zeigt noch einmal Ommagio a Niepce. Nun aber ist das Glas und mit ihm der referenzielle Bezug zwischen Bild und Wirklichkeit zerschlagen.

Literatur und Bildquellen
Steffen Siegel: Der Blick auf das Fenster. Zum bildanalytischen Gestus bei Ugo Mulas und Timm Rautert. In: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie. Heft 129, 2013, Jahrgang 33

175 Jahre Fotografie

Vor 175 Jahren erfand Henry Fox Talbot das Negativ-Positiv-Verfahren. Seine Erfindung gilt als Geburtsstunde der Fotografie.

Im Sommer 1835 entwickelte Henry Fox Talbot ein chemisches Verfahren, mit dem es möglich wurde, Papierbeschichtungen zu entwickeln, die zur Verwendung in einer Kamera geeignet waren. Er erkannte dabei, dass man mit diesem Verfahren auch Negative erhielt, die wieder beliebig oft auf ein lichtempfindliches Papier kopiert werden konnten. Ein Ergebnis seiner Experimente gilt als das früheste erhaltene Papiernegativ. Die kleine Aufnahme, nur wenige Zentimeter große Aufnahme zeigt ein Erkerfenster auf seinem Anwesen Lacock Abbey.

Das Fenster ist aber auch Gegenstand zweier weiterer frühen Fotografien.

Bereits 1827 hatte Nicéphore Nièpce auf seinem Landgut Le Gras in Saint-Loup-de-Varennes eine Heliographie erstellt, die den Ausblick aus dem Fenster seines Arbeitszimmers zeigt. Und auch eine frühe Aufnahme von Louis Daguerre, der sich das von ihm entwickelte Positiv-Verfahren unter seinem Namen patentieren ließ, zeigt einen Blick aus einem Fenster: Boulevard du Temple wurde 1838 vom Fenster seines Arbeitszimmers aus aufgenommen. Daguerres Aufnahme gilt zugleich als die älteste Fotografie, auf dem Menschen abgebildet sind. Da die erforderlichen Belichtungszeiten zu diesem Zeitpunkt noch sehr lang waren, nimmt man an, dass der Schuhputzer und sein Kunde, die im Vordergrund links zu sehen sind, absichtlich dort platziert wurden.

Die frühen Aufnahmen von Nièpce, Talbot und Daguerre bilden aber nicht nur Fenster und Fensterblicke ab. Indem sie den Blick durch ein Fenster zeigen, verdoppeln sie auch das Prinzip der Kamera, die historisch aus der Camera Obscura und ihrer strengen Geometrie der Zentralperspektive hervorging. Denn auch die Apparatur selbst bedient sich eines kleinen Fensters, durch das während einer genau bemessenen Zeit Licht auf eine empfindliche Schicht fällt, wodurch ein fotografisches Bild entsteht

Dass die Fotografie dem Fenster als Sujet unter wechselnden Gesichtspunkten und Fragestellungen bis heute treu blieb, dies zeigt auch die kleine, aber sehenswerte Ausstellung Landschaft im Decolleté, die zurzeit in den Opelvillen Rüsselsheim zu sehen ist.

Landschaft im Dekolleté

Landschaft im Dekolleté. Fenster als Element und Metapher – Titel und Untertitel der aktuellen Ausstellung der Kunst- und Kulturstiftung Opelvillen in Rüsselsheim sind recht eigenwillig. Landschaften etwa bekommt man so gut wie keine zu sehen.  Die Ausstellung selbst aber ist sehenswert. Gezeigt werden mehr als 120 Fotografien, Videos und Objekte von verschiedenen Künstlerinnen und Künstlern, alle entstanden zwischen 1984 und 2013. Dass unter den ausgestellten “Schlüsselwerken” die Fenster-Fotografien etwa von Sabine Hornig oder Günther Förg nicht zu sehen sind, ist allerdings schade.

HimmelDas Fenster erscheint in den ausgestellten Fotografien, die größtenteils noch in analoger Technik aufgenommen wurden, als Schnittstelle zwischen Sichtbaren und Unsichtbaren, Gegenwartmund Vergangenheit, Bewussten und Unbewusstem, Wahrnehmung und Vorstellung. In den ausgestellten Fotografien erscheint das Fenster mal flach, opak und undurchdringlich, zuweilen setzt es aber auch Überlagerungen und Verschiebungen in Gang: Shizuka Yokomizo Porträtaufnahmen von Menschen vor ihren Fenstern, die die Kluft zwischen Fotograf und Abgebildeten versinnbildlichen ‐ Loredana Nemes’ Fotografien der Frontscheiben von türkischen und arabischen Männercafés, zu denen Frauen keinen Zutritt haben, oder ihre Porträtaufnahmen von nur schemenhaft erkennbaren Männern hinter milchigen Glasscheiben, Rollos und Gardinen ‐ Lucinda Devlins Bild einer Todeszelle, die zwar ein Fenster besitzt, durch das aber ein Blick nach draußen nicht möglich ist ‐ Thomas Florschuetz, in dessen Fensterbildern, die nach Innen geöffnet sind, Spiegelungen und Durchblicke in einer Weise gestaffelt sind, die Florschuetz zufolge „weder einen Blick nach innen, noch einen nach außen freigeben” ‐ Beatrice Mindas nächtliche und unscharfe Erinnerungsbilder an ihre fremdgewordene rumänische Heimat, die beleuchtete Fenster von Häusern zeigen und die auf den Zusammenhang zwischen Sehen und Erinnern verweisen – Marja Piriläs Porträts, in denen Außenwelt und Innenraum sich überlagern und die, nicht zuletzt durch die Verwendung der Camera Obscura-Technik, das Wunderbare wiederbeleben, das der Fotografie in ihren Anfangszeiten zugeschrieben wurde ‐ Sibylle Hoesslers Polaroidserie 18 Tage, die sie vom Krankenbett aus durch das Fenster gemacht hat und die in ihrer mosaikartigen Anordnung einen gebrochenen Ausblick auf einen monochromen, sich kaum verändernden und augenscheinlich unerreichbaren Himmel zeigt.

Von Sibylle Hoessler insbesondere ließe sich ein Bogen spannen von der Fotografie zur Malerei, etwa zu dem Symbolisten Ferdinand Hodler, der in seinen letzten Lebensmonaten von seinem Zimmer aus den Genfersee und den Mont Blanc malte. Einen Ausstellungskatalog, der solche Querverbindungen und Referenzen thematisieren könnte, gibt es aber leider nicht.

Barthes / Flusser

Das Fenster: Für Roland Barthes ist es Sinnbild für die vollständige Transparenz der Fotografie im Hinblick auf ihren Referenten. Für Vilém Flusser Ausdruck des Irrglaubens, technische Bilder seien objektiv.

Von Nicéphore Nièpce stammt die erste, heute noch erhaltene Fotografie. Die Heliographie, die er 1827 auf seinem Landgut Le Gras in Saint-Loup-de-Varennes aufnahm, zeigt einen Blick aus dem Fenster seines Arbeitszimmers.

In der Kunst- und Fototheorie wurde Point de vue Gras und mit ihr die Fotografie deshalb verschiedentlich im Kontext der Malerei gedeutet. Nièpce Heliographie belege, dass die Fotografie in ihrer Geburtsstunde in der Tradition und damit auch in Konkurrenz mit der von der Fluchtpunktperspektive bestimmten Malerei stand, die deren Begründer Alberti zu Beginn des 15. Jahrhunderts als „offenes Fenster“ beschrieben hatte.

Dass die Aufnahme von einem Innenraum heraus ins Freie gemacht wurde, ist indes auch dem verwendeten technisch-apparativen Verfahren geschuldet. Schon allein aus praktischen Gründen war der Blick aus dem Innenraum heraus das erste fotografische Sujet. Eine ausreichende Belichtung wäre ohne die lang anhaltende Lichtquelle eines Fensters nicht möglich gewesen. Die Aufnahme, die Nièpce in einer Camera Obscura machte, benötigte wegen der Lichtunempfindlichkeit der verwendeten Trägerschicht, einer Platte mit ölbehandeltem Asphalt, mehr als acht Stunden Belichtungszeit. Point de vue Gras reflektiert also auch die technische Apparatur und die von ihr gestellten Anforderungen.

Roland Barthes

Mehr als 150 Jahre später greift Roland Barthes die Metapher des Fensters wieder auf, wenn er in der Hellen Kammer das Wesen der Fotografie im „Eigensinn des Referenten“ sieht, „immer da zu sein“. „Die PHOTOGRAPHIE“, schreibt Barthes, „gehört zu jener Klasse von geschichteten Objekten, von denen man auch nicht zwei Blätter abtrennen kann, ohne sie zu zerstören: die Fensterscheibe und die Landschaft“. Ein Dualismus, der laut Barthes zwar fassbar, aber nicht wahrnehmbar ist.

Diese Transparenz, deren Sinnbild das Fenster ist, ist bei Barthes verbunden mit der Ausklammerung des physikalischen Anteils an der Fotografie. Zwar stellt Barthes fest, dass die Fotografie in „technischer Hinsicht“ „am Kreuzweg zweier vollkommen verschiedener Prozesse“ steht, nämlich der Chemie und der Physik. Wie der operator, der Fotograf, dem „die Entstehung des Bildes mittels einer optischen Vorrichtung“, zugeordnet wird, findet aber auch der physikalische Teil der Apparatur in der Hellen Kammer so gut wie keine Berücksichtigung.

Mit dem Hinweis „ich bin kein Fotograf“ und der abschätzigen Bemerkung, „daß das Gefühl des operator in irgendeiner Beziehung steht zu dem ‚kleinen Loch‘ (stenopäischer Apparat)“ wird der Fotograf von den weiteren Überlegungen weitgehend ausgeklammert. Wenn von ihm im weiteren Verlauf überhaupt noch die Rede ist, dann nur geringschätzig: seine „wesentliche Handlung“ bestehe darin, „etwas oder jemanden zu überraschen (durch das kleine Loch im Gehäuse)“. Eine Überraschung, die Barthes keinen Wert beimisst.

Camera LucidaDer Fotoapparat wiederum, in dessen dunklem Inneren die Belichtung erfolgt, wird ersetzt durch ein quasi natürliches Relais, in dem der Prozess der Abbildung offen sichtbar ist und das am Ende der Bemerkungen zur Photographie diesen noch ihren Namen gibt: Helle Kammer. „Zu Unrecht“, resümiert Barthes, „bringt man die Fotografie, aufgrund ihres technischen Ursprungs, mit der Vorstellung eines dunklen Durchgangs in Zusammenhang (camera obscura). Man müßte camera lucida sagen (so wurde ein Apparat genannt, ein Vorläufer der Kamera, mit dessen Hilfe man einen Gengenstand durch ein Prisma hindurch zeichnen konnte, das eine Auge auf die Vorlage, das andere auf das Papier gerichtet)“.

Der Grund für diese Ausklammerung liegt Barthes zufolge letztlich darin, dass es bei der Bestimmung des Wesens der Fotografie nicht um die Frage gehe, ob die Fotografie ein Analogon der Welt ist und ob „die photographische Optik der (ganz und gar historischen Perspektive Albertis) untergeordnet ist und die Belichtung der Filmschicht aus einem dreidimensionalen Gegenstand ein zweidimensionales Bild macht“. Diese namentlich von Soziologen und Semiologen geführte Debatte sei „fruchtlos“. Und zwar nicht, weil sich „das analogische Wesen“ der Fotografie nicht von der Hand weisen lasse, sondern weil „das Noema der PHTOTOGRAPHIE mitnichten in der Analogie zu suchen“ ist, sondern in der „Zeugenschaft der PHOTOGRAPHIE“, in ihrem „Es-ist-so-gewesen“.

Vilém Flusser

Barthes Name fällt in Flussers für eine philosophie der fotografie nicht. Die Helle Kammer ist jedoch unüberhörbar Flussers Bezugspunkt: „Die seitens der technischen Bilder scheinbar bedeutete Welt scheint ihre Ursache zu sein und sie selbst ein letztes Glied in einer Kausalkette, die sie ohne Unterbrechung mit ihrer Bedeutung verbindet: Die Welt reflektiert Sonnen- und andere Strahlen, welche mittels optischer, chemischer und mechanischer Vorrichtungen auf empfindlichen Oberflächen festgehalten werden und als Resultat technische Bilder hervorbringen, das heißt sie scheinen auf der gleichen Wirklichkeitsebene zu liegen wie ihre Bedeutung.“

Demgegenüber stellt Flusser apodiktisch fest: „Das technische Bild ist ein von Apparaten erzeugtes Bild.“ Dass technische Bilder einen unsymbolischen, objektiven Charakter haben, sei „eine Täuschung“, die sich insbesondere in der irrtümlichen Neigung zeigt, Bilder „nicht als Bilder, sondern als Fenster“ zu betrachten.

Flusser spricht sich damit nicht nur gegen eine ontologische Auffassung der Fotografie aus, wie sie von Barthes vertreten wird. Sein „Versuch“ bezieht im Begriff des Apparates ausdrücklich auch den physikalischen Teil mit ein. Was gebraucht werde, ist eine Kritik der technischen Bilder, die alle apparativen Aspekte berücksichtigt, die bei ihrer Erzeugung eine Rolle spielen. In Anlehnung an Walter Benjamins Verdikt in der Kleinen Geschichte der Photographie, „dass nicht der Schrift-, sondern der Photographieunkundige der Analphabet der Zukunft sein wird“, formuliert Flusser: „Die Codierung der technischen Bilder geht aber nun einmal im Inneren dieser Black Box ‚Apparat/Operator‘ vor sich, und folglich muß jede Kritik der technischen Bilder darauf gerichtet sein, ihr Inneres zu erhellen. Solange wir über eine derartige Kritik nicht verfügen, bleiben wir, was die technischen Bilder betrifft, Analphabeten.“

Ein wunderbares Bild

Roland Barthes zeichnet in der Hellen Kammer ein wunderbares Bild von der Fotografie. „Die PHOTOGRAPHIE“, schreibt er, „gehört zu jener Klasse von geschichteten Objekten, von denen man auch nicht zwei Blätter abtrennen kann, ohne sie zu zerstören: die Fensterscheibe und die Landschaft, das GUTE und das BÖSE, der Wunsch und sein Objekt“.

Barthes entwirft damit eine Bildtheorie, in der der Bildträger praktisch unsichtbar ist: Das Licht der Landschaft fällt ungebrochen durch die Fensterscheibe herein in das Auge des Betrachters.

Das Darstellungssystem, das damit verbunden ist, unterscheidet sich wesentlich von anderen Darstellungssystemen. Während zum Beispiel die Malerei eine Realität fingieren kann, ohne sie gesehen zu haben, bedarf die Fotografie notwendig einer realen Sache, „die vor dem Objektiv platziert war und ohne die es keine Photographie gäbe“. Das Eigentümliche des fotografischen Darstellungssystems ist demnach, dass der Signifikant „allemal unsichtbar“ ist, wohingegen der Referent „immer da“ ist. Barthes spricht in diesem Zusammenhang durchaus doppeldeutig auch vom „Eigensinn“ des Referenten: „Was immer auch ein Photo dem Auge zeigt und wie immer es gestaltet sein mag, es ist doch allemal unsichtbar: es ist nicht das Photo, das man sieht, … jedes Photo ist in gewisser Hinsicht die zweite Natur seines Referenten“.

Was aber passiert, wenn die Fensterscheibe bricht?
Das Bild von der Fensterscheibe und der Landschaft verwandelt sich unter der Hand in ein unwirkliches Szenario, das von René Magritte stammen könnte. In seinem Gemälde Le soir qui tombe zerstört er mit der Fensterscheibe den Ausblick, fasst diesen in den Scherben aber nicht mehr als Ganzes zusammen. Zerspringt die Fensterscheibe, dann zerbricht auch die Landschaft.