Schon bald nach der Erfindung der Fotografie wurde dieser vorgeworfen, sie bilde nur die leichenhafte Oberfläche ab und dringe nicht zum Wesen des Abgebildeten vor. Die piktorialistische Kunstfotografie begegnete diesem Vorwurf bekanntlich mit der Anwendung besonderer Aufnahmeverfahren und Drucktechniken sowie einem Kompositionsverfahren, das sich dezidiert an der Malerei orientierte. Die von den Kritikern bemängelte Darstellungsgenauigkeit sollte so reduziert und der Fotografie der angeblich fehlende Raum für die Einbildungskraft des Betrachters zurückgegeben werden.
Paul Strands Blind Woman, das in 1917 der letzten Ausgabe der berühmten Fotozeitschrift Camera Work erschien, stellt einen Bruch mit der selbstgewählten Blindheit des Piktorialismus dar. Es steht exemplarisch für eine fotografische Praxis und Theorie, die um 1920 insbesondere dem Piktorialismus vorwarf, blind für die Welt der Erscheinungen zu sein. Das neue Sehen, das unter dem Namen Straight Photography bekannt wurde, wollte demgegenüber nicht nur eine neue Perspektive auf die Wirklichkeit eröffnen, es verstand sich vielmehr als „Wirklichkeitserschließung sui generis“ im Geiste der Wissenschaft. Das erklärte ästhetische Ziel war die sachliche, klare Objektivität in der Darstellung. Die „absolute und unbestimmte Objektivität“, so Strand, macht „den wahren Wesensgrund der Fotografie“ aus. Fotografie sei „der einzige bedeutende Beitrag der Wissenschaften zu den Künsten“.
Der Fotograf selbst sollte sich in diesem Prozess zurücknehmen, also unsichtbar werden. Das Fotografieren sollte, so Strand, ein „fotografieren, ohne selber gesehen zu werden“ sein. In Blind Woman ist dieses neue Sehen-ohne-gesehen-zu-werden programmatisch in ein Bild gefasst.
Strand greift mit seiner Aufnahme einer blinden Frau, die zu einer der einflussreichsten Fotografien des frühen 20. Jahrhunderts zählt und deren Einfluss über Walker Evans bis zu Luc Delahaye reicht, auf ein Thema zurück, das für die Malerei seit Mitte des 18. Jahrhunderts von großer Bedeutung ist. Der Kunsthistoriker Michael Fried hat in Absorption and Theatricality. Painting and Beholder in the Age of Diderot die Vorliebe der Malerei für dieses Sujet darauf zurückgeführt, dass es in idealer Weise deren antitheatralischen Ausrichtung entgegenkomme, da sich ein blinder Mensch problemlos so darstellen lasse, als sei er sich des Beobachtetwerdens nicht gewahr.
Die Fotografie Strands verdeutlicht in ihrer Programmatik allerdings auch, dass ein Sehen / Fotografieren, ohne gesehen zu werden, letztlich auf einem Schwindel beruht. Und das nicht nur hinsichtlich der Technik, die Strand, Evans oder Delahaye bei Ihren Aufnahmen einsetzten, um die Porträtierten unbeobachtet fotografieren zu können: Strand verwendete für seine Aufnahmen eine Art Winkelobjektiv, Evans verbarg seine Kamera unter seinem Mantel, wobei das Objektiv zwischen zwei Mantelknöpfen herauslugte.
Grundsätzlicher ist der Vorbehalt, den Vilém Flusser in Die Geste des Fotografierens gegenüber einem solchen Vorgehen formuliert. Zwar erweist sich das „komplexe Gewebe aus Aktion und Reaktion“, das sich beim Fotografieren zwischen dem Fotografen und seinem Bildmotiv einstellt, bei näherem Hinsehen als ein „Scheindialog“, da die Rollenverteilung hierarchisch ist: hier der Fotografierte, der auf die Situation mit einer „Mischung aus Befangenheit und Exhibitionismus“ reagiert; dort der Fotografierende mit seiner „seltsamen Empfindung, zugleich Zeuge, Ankläger, Verteidiger und Richter zu sein, einer Empfindung des schlechten Gewissens“. Weshalb der Fotograf auch versucht, „sein Motiv in einem unbewachten Moment zu überraschen, um es in ein Objekt zu verwandeln“, und so sein Motiv letztendlich „erschwindelt“.
Luc Delahaye hat die Aufnahmesituation für die Fotografien von Fahrgästen in der Pariser Métro für sein Buch L’Autre denn auch wie folgt beschrieben: „Ich sitze jemandem gegenüber, um sein Bild zu machen, eine Form von Beweismittel, aber genau wie er starre ich in die Ferne und tue so, als wäre ich nicht da. Ich versuche, wie er zu sein. Das Ganze ist eine einzige Heuchelei, eine notwendige Lüge, die lange genug währt, um ein Bild zu machen.“
Jenseits des bloßen Nicht-gesehen-werden-könnens besteht Flusser zufolge zwischen Fotografierendem und Fotografierten aber eine Situation, aus der keiner der beiden Teile austreten kann und die beide wechselseitig bestimmt und beeinflusst: „Der Fotograf kann nicht anders, als die Situation zu manipulieren, seine bloße Anwesenheit ist eine Manipulation. Und er kann nicht vermeiden, durch die Situation modifiziert zu werden, die bloße Tatsache, sich darin zu befinden, hat ihn verändert.“
Was Flusser kritisiert, ist ein „bestimmter Sinn des Begriffs Objektivität“, der in der Wissenschaft gebräuchlich ist und der auch die Fotografie programmatisch immer wieder bestimmte, der aber an der grundsätzlichen situativen Verklammerung von Betrachter und Betrachtetem, Fotograf und Fotografiertem vorbeigeht. Die „Objektivität der Fotografie“ zeigt sich demgegenüber und paradoxerweise gerade in der Manipulation: „Die Objektivität eines Bildes (einer Idee) kann gar nichts anderes als das Ergebnis der Manipulation (der Beobachtung) irgendeiner Situation sein. Jede Idee ist insofern falsch, als sie das von ihr Erfaßte manipuliert und in diesem Sinn ist sie ‚Kunst‘, das heißt Fiktion.“ Dass es laut Flusser „in einem anderen Sinn wahre Ideen“ gebe, „nämlich dann, wenn sie das von ihnen Betrachtete wirklich erfassen“, wirft allerdings die Frage auf, unter welchen Kriterien denn ein Sachverhalt wirklich erfasst ist.