„Wir sagen zum Beispiel immer noch, ein Trinkglas sei kreisrund, obwohl es dies nur von einem einzigen, höheren Standpunkt aus ist, nämlich sub specie aeterni. Von anderen Standpunkten aus ist seine Öffnung elliptisch, oder es ist eine Gerade. Die Frage, wie es denn damit in Wirklichkeit steht, ist ein Unsinn. Man kann hingegen sagen, daß die Öffnung des Trinkglases von einem Schwarm von Standpunkten umgeben ist (daß sie den Kern eines Relationsfeldes bildet) und immer wirklicher wird, je mehr Standpunkte ihr gegenüber eingenommen werden. Die Trinkglasöffnung ist jedoch nie gänzlich zu verwirklichen, weil es zahllose, vielleicht unendlich viele Standpunkte gibt, die eingenommen werden müßten. Das eben meint man, wenn man sagt, das Trinkglas sei ‚konkret‘: Es wachsen in ihm (‚concrescere‘) zahllose Standpunkte ineinander. Ebenso wie es ein Unsinn ist, nach der wirklichen Form der Trinkglasöffnung zu fragen, ist es ein Unsinn, von einer Fotografie zu sagen sie sei ein objektives Abbild dieser Trinkglasöffnung. Im Gegenteil: Sie ist ein Standpunkt zur Trinkglasöffnung und als solcher ein kleiner Beitrag zur Verwirklichung des Trinkglases. Das ist es, was der gesunde Menschenverstand noch immer nicht verdaut hat.“
Vilém Flusser, Die fotografische Geste (1986)