Eine Kalotypie von Henry Fox Talbot aus dem Jahr 1843 zeigt den Boulevard des Capucines in Paris. Talbot versieht das Bild mit einer Erläuterung: „Diese Ansicht wurde von einem der oberen Fenster des Hôtel de Douvres aufgenommen, das an der Ecke der Rue de la Paix liegt. Der Betrachter blickt nach Nordosten. Es ist Nachmittag.“
Talbot benennt hier nicht nur den exakten Standpunkt, von dem aus das Bild aufgenommen wurde, sowie die Himmelsrichtung, nach der hin die Aufnahme erfolgte. Auch der Zeitpunkt der Aufnahme wird bezeugt: Es ist Nachmittag. Er verschränkt damit zugleich Bild und Betrachter. Als sei der Nachmittag, den das Bild zeigt, zugleich auch der Nachmittag desjenigen, der das Bild betrachtet; als zeige das Bild keine längst vergangene Straßenszene, sondern etwas, was sich hier und jetzt ereignet. Die Erläuterung formuliert dadurch jenen eigentümlichen Anspruch, aber auch die Spannung, die die Fotografie in ihren Anfängen kennzeichnet: einen vergangenen Ort und eine vergangene Zeit zu konservieren und sie dem Betrachter zugleich als etwas anzutragen, das sich an seine unmittelbare Gegenwart anschließt. Bereits die zeitgenössische Kunstkritik äußerte sich aber kritisch über diesen Anspruch, brachten es doch die langen Belichtungszeiten der ersten Jahre mit sich, dass bewegte Personen und Objekte nicht erfasst werden konnten. In diesem Sinn stellte 1839 ein Kritiker fest, dass die Fotografie nur über den Raum, nicht aber über die Zeit gebiete.
Im Städel Museum in Frankfurt werden in der Ausstellung für Gegenwartskunst zwei Straßenbilder von Thomas Struth ausgestellt. Die Titel der beiden Fotografien von Struth enthalten sich dabei jeglichen Kommentars. Benannt werden lediglich Ort und Jahr, in dem sie entstanden sind. So als ob vermieden werden sollte, dass der Text das Bild belastet, indem er ihm „eine Kultur, eine Moral, eine Phantasie aufbürdet“ (Roland Barthes) oder ihm widerspricht.
Die dargestellte Zeit und der dargestellte Raum sind allerdings nicht mehr ohne weiteres als die des Betrachters erkennbar. Zwar sind die beiden Stadtbilder Struths auf Straßenniveau aufgenommen und legen durch ihren Aufnahmestandpunkt und die strenge Zentralperspektive eine raum-zeitliche Verschränkung von Dargestelltem und Betrachter nahe. Wo Talbot, dessen Kalotypie von einem erhöhten und damit distanzierten Augpunkt aufgenommen wurde, noch eines kommentierenden Textes bedurfte, scheint Struth das Hier und Jetzt der dargestellten Straßenszenen also allein durch die Bildkomposition anzudeuten. Das kennzeichnende Merkmal der beiden Stadtbilder aber ist die Fremdheit, die aus der für Städte vollkommen ungewohnten Menschenleere und Bewegungslosigkeit resultiert. In ihrer Geschichtslosigkeit erinnern Thomas Struths Stadtbilder daher eher an Natur- als an Kulturräume.