Odradek, Taboritská 8, Prag, 18. Juli 1994 ist nach Jeff Wall das zweite einer zwanglosen Serie von Fotografien, die Literatur zum Gegenstand haben. Die Fotografie nimmt Bezug auf Kafkas Erzählung Die Sorge des Hausvaters, die 1919 entstand. Jeff Wall notiert zu seinem Bild: „Kafka’s story‘ Troubles of a Housholder‘ tells of the existence of Odradek, a small wooden object that is also a living being of some kind. I imagined that Odradek was still living somewhere in the city, and that if I went there, I would be able to catch a glimpse of him under a staircase, as described in the story.“
Wall unterstellt in dieser kurzen Erläuterung, dass sowohl Kafkas Erzählung Die Sorge des Hausvaters als auch seine Fotografie Odradek, Taboritská 8, Prag, 18. Juli 1994 Wirklichkeit abbilden. Wenn Odradek, wie Kafkas Erzählung nahelegt, nicht sterblich ist, dann muss er immer noch irgendwo in Prag leben und dann kann man auch einen Blick von ihm erhaschen, sprich: ihn fotografieren.
Der Titel von Jeff Walls Fotografie spinnt dieses Spiel fort, indem er steckbriefartig Gegenstand, Ort und Zeitpunkt der Aufnahme benennt und dadurch vorgibt, die Fotografie habe einen dokumentarischen Charakter. Nun ist dem, der Kafkas Erzählung kennt, allerdings bekannt, dass Odradek eine fiktive Figur eines literarischen Textes ist. Die Lektüreanweisung, die der Titel als Paratext einem solchen Betrachter gibt, ist also erkennbar widersprüchlich, nimmt der Titel doch zugleich Bezug auf einen realen Ort und eine fiktive Figur. Wer die Erzählung Kafkas kennt und die Figur Odradek einzuordnen vermag, steht also vor dem Problem, wie die Fotografie Odradek, Taboritská 8, Prag, 18. Juli 1994 zu verstehen ist.
Gleichwohl ist es gerade der im Titel genannte und auf einen fiktionalen Text referenzierende Eigenname Odradek, der aus dem Bild mehr macht als eine nur atmosphärisch dichte Darstellung einer jungen Frau, die in einem halb verfallenen, dunklen Hausflur eine Treppe heruntergeht. Der Name Odradek erst setzt nämlich jene Suche bei der Betrachtung des Bildes in Gang, die in Kafkas Erzählung begonnen wurde und die der Bestimmung Odradeks gilt.
Diese Suche nach dem im Titel bezeichneten Gegenstand bleibt indes sowohl in Kafkas Erzählung wie auch in Jeff Walls Fotografie ergebnislos. Denn ebenso wie der Hausvater in Kafkas Erzählung mit seinen metonymischen Verschiebungen, modalisierten Vermutungen und Formulierungen im negierten Irrealis vergeblich versucht, Odradek sprachlich zu fassen, so ist auch in der Fotografie Jeff Walls Odradek nicht auszumachen. Zwar fällt zwischen der Treppe und dem Pfeiler etwas ins Auge, das sich unmerklich vom dunklen Hintergrund abhebt. Dieses etwas kann aber nicht mit Bestimmtheit als jene Spule ausgemacht werden, als die Odradek in Die Sorge des Hausvaters beschrieben wird.
Die Ergebnislosigkeit der Suche stellt die Behauptung des Titels in Frage, die Fotografie zeige Odradek. Der Titel formuliert einen dokumentarischen Anspruch, den die Fotografie eben weil sie ihren eigentlichen Gegenstand nicht repräsentieren auch nicht einlösen kann. Walls Fotografie kann Odradek ebenso wenig bedeuten / zeigen, wie der Hausvater in Kafkas Erzählung das „Wesen“ bestimmen kann, das zwar „in seiner Art abgeschlossen“, aber „sinnlos“ erscheint. Es ist diese Abwesenheit und Unbestimmbarkeit, die Kafkas Erzählung und Walls Fotografie gemeinsam ist.
Was Wall in seiner Fotografie und ausgehend von Franz Kafkas Erzählung Die Sorge des Hausvaters verhandelt und unterminiert, ist letzten Endes die Auffassung, Fotografie bilde per se Wirklichkeit ab. Wall formuliert in Odradek, Taboritská 8, Prag, 18. Juli 1994 eine Kritik der Repräsentation. In einem Interview mit Arielle Pélenc äußert er sich zu dieser Kritik der Repräsentation wie folgt: „Die Behauptung, dass es eine notwendige Beziehung zwischen der Darstellung und dem Dargestellten gibt, impliziert, dass der Referent als der Darstellung vorausgehend gedacht wird. Auf dieser Annahme gründet jegliche Legitimation von Repräsentation. Eine Kritik der Repräsentation weist demgegenüber darauf hin, dass Repräsentation sich genau dann ereignet, wenn jemand glaubt, dass eine Darstellung ihrem Gegenstand adäquat entspricht, was aber aus Sicht einer Kritik der Repräsentation entweder eine Selbsttäuschung oder eine Täuschung anderer ist.“
Repräsentation: das ist für Jeff Wall ein Akt der Konstruktion und der Selbsttäuschung. Die künstlerische Praxis, die Jeff Wall ausgehend von dieser Kritik der Repräsentation anstrebte, ist bekanntlich jene inszenierte Fotografie, deren Ergebnis auch Odradek, Taboritská 8, Prag, 18. Juli 1994 ist.
Literatur
Correspondence, 1996. Interview by Arielle Pélenc. In: Jeff Wall, The Complete Edition