Ugo Mulas: Verifika

Jean Baudrillard zufolge ist die Geschichte des Bildes eine Geschichte der Verwandlung der Illusion der Realität in ihre Simulation. Wurden in der Frühzeit der Fotografie Bilder als bildliche Materialisation der Gegenstände betrachtet, so bezeichnet für Baudrillard das Simulakrum ein Bild, für das die Kategorien von Original und Kopie überflüssig geworden sind. Vollends erfüllt die digitale Fotografie die Bedingungen dieses Simulakrums. Denn während die Fotografie im analogen Zeitalter die Realität als Faksimile und Ebenbild repräsentierte, ist sie unter den Bedingungen des Digitalen zu einem Simulakrum geworden, das die Wirklichkeit absorbiert hat und zur neuen Wirklichkeit geworden ist.

Diese Geschichte des Verschwindens der Illusion der Realität wurde unter dem Aspekt der Auflösung der Referenz zwischen Bild und Wirklichkeit auch in der Fotografie der 1970er Jahre thematisiert. So hat etwa der italienische Fotograf Ugo Mulas in seiner Verifica-Serie versucht, die Eigenart des Fotografischen im fotografischen Bild selbst zu reflektieren, um die Voraussetzungen, Möglichkeiten und Grenzen der – damals noch analogen – Bildtechnologie zu veranschaulichen und auf den trügerischen Bezug von Bild und Wirklichkeit hinzuweisen. Mulas bezieht sich dabei ausdrücklich auf Nicéphore Nièpce und dessen Heliographie Point de vue Gras, die 1827 entstand und als erste, noch heute erhaltene Fotografie gilt.

Mit Ugo Mulas‘ Ommagio a Niepce steht einmal mehr auch das Fenster im Mittelpunkt einer Auseinandersetzung mit der Fotografie. Auf einem pechschwarzen Grund, akzentuiert durch eine dünne weiße Linie, die zeichenhaft auf den Fensterrahmen in Nièpces Heliographie verweist, ist ein 35mm-Kleinbildfilm zu sehen, der in sechst Streifen zerschnitten zu einem Rechteck zusammengefügt ist und auf Fotopapier kontaktkopiert wurde. Die 36 Aufnahmen des Kleinbildfilms sind zwar entwickelt und fixiert, aber unbelichtet, zeigen also nichts als kleine, schwarze Flächen. Die weiße Linie entstand bei der Belichtung des Kontaktpapiers durch den Lichtsaum der Glasplatte, die für die Aufnahme auf die Filmstreifen gelegt wurde, um diese auf das Fotopapier zu pressen.

 

Es ist diese Blindheit der Filmstreifen, die den bildanalytischen Kern von Ommagio a Niepce ausmacht. Ugo Mulas‘ Bild ist dadurch augenscheinlich dysfunktional im Hinblick auf die der Fotografie zugeschriebene Funktion, Wirklichkeit zu repräsentieren.

Möchte man über die Fotografie als Fenster zur Wirklichkeit nachdenken, das legt Mulas Fotografie Ommagio a Niepce nahe, dann darf man nicht durch das Fenster hindurchschauen, sondern muss auf das Fenster selbst sehen. In diesem Sinn wird die Verifica-Serie durch eine Fotografie abgeschlossen, die sich ebenfalls auf ein Fensterbild bezieht. Ugo Mulas‘ Fine delle verifiche. Per Marcel Duchamp zeigt noch einmal Ommagio a Niepce. Nun aber ist das Glas und mit ihm der referenzielle Bezug zwischen Bild und Wirklichkeit zerschlagen.

Literatur und Bildquellen
Steffen Siegel: Der Blick auf das Fenster. Zum bildanalytischen Gestus bei Ugo Mulas und Timm Rautert. In: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie. Heft 129, 2013, Jahrgang 33

Barthes / Flusser

Das Fenster: Für Roland Barthes ist es Sinnbild für die vollständige Transparenz der Fotografie im Hinblick auf ihren Referenten. Für Vilém Flusser Ausdruck des Irrglaubens, technische Bilder seien objektiv.

Von Nicéphore Nièpce stammt die erste, heute noch erhaltene Fotografie. Die Heliographie, die er 1827 auf seinem Landgut Le Gras in Saint-Loup-de-Varennes aufnahm, zeigt einen Blick aus dem Fenster seines Arbeitszimmers.

In der Kunst- und Fototheorie wurde Point de vue Gras und mit ihr die Fotografie deshalb verschiedentlich im Kontext der Malerei gedeutet. Nièpce Heliographie belege, dass die Fotografie in ihrer Geburtsstunde in der Tradition und damit auch in Konkurrenz mit der von der Fluchtpunktperspektive bestimmten Malerei stand, die deren Begründer Alberti zu Beginn des 15. Jahrhunderts als „offenes Fenster“ beschrieben hatte.

Dass die Aufnahme von einem Innenraum heraus ins Freie gemacht wurde, ist indes auch dem verwendeten technisch-apparativen Verfahren geschuldet. Schon allein aus praktischen Gründen war der Blick aus dem Innenraum heraus das erste fotografische Sujet. Eine ausreichende Belichtung wäre ohne die lang anhaltende Lichtquelle eines Fensters nicht möglich gewesen. Die Aufnahme, die Nièpce in einer Camera Obscura machte, benötigte wegen der Lichtunempfindlichkeit der verwendeten Trägerschicht, einer Platte mit ölbehandeltem Asphalt, mehr als acht Stunden Belichtungszeit. Point de vue Gras reflektiert also auch die technische Apparatur und die von ihr gestellten Anforderungen.

Roland Barthes

Mehr als 150 Jahre später greift Roland Barthes die Metapher des Fensters wieder auf, wenn er in der Hellen Kammer das Wesen der Fotografie im „Eigensinn des Referenten“ sieht, „immer da zu sein“. „Die PHOTOGRAPHIE“, schreibt Barthes, „gehört zu jener Klasse von geschichteten Objekten, von denen man auch nicht zwei Blätter abtrennen kann, ohne sie zu zerstören: die Fensterscheibe und die Landschaft“. Ein Dualismus, der laut Barthes zwar fassbar, aber nicht wahrnehmbar ist.

Diese Transparenz, deren Sinnbild das Fenster ist, ist bei Barthes verbunden mit der Ausklammerung des physikalischen Anteils an der Fotografie. Zwar stellt Barthes fest, dass die Fotografie in „technischer Hinsicht“ „am Kreuzweg zweier vollkommen verschiedener Prozesse“ steht, nämlich der Chemie und der Physik. Wie der operator, der Fotograf, dem „die Entstehung des Bildes mittels einer optischen Vorrichtung“, zugeordnet wird, findet aber auch der physikalische Teil der Apparatur in der Hellen Kammer so gut wie keine Berücksichtigung.

Mit dem Hinweis „ich bin kein Fotograf“ und der abschätzigen Bemerkung, „daß das Gefühl des operator in irgendeiner Beziehung steht zu dem ‚kleinen Loch‘ (stenopäischer Apparat)“ wird der Fotograf von den weiteren Überlegungen weitgehend ausgeklammert. Wenn von ihm im weiteren Verlauf überhaupt noch die Rede ist, dann nur geringschätzig: seine „wesentliche Handlung“ bestehe darin, „etwas oder jemanden zu überraschen (durch das kleine Loch im Gehäuse)“. Eine Überraschung, die Barthes keinen Wert beimisst.

Camera LucidaDer Fotoapparat wiederum, in dessen dunklem Inneren die Belichtung erfolgt, wird ersetzt durch ein quasi natürliches Relais, in dem der Prozess der Abbildung offen sichtbar ist und das am Ende der Bemerkungen zur Photographie diesen noch ihren Namen gibt: Helle Kammer. „Zu Unrecht“, resümiert Barthes, „bringt man die Fotografie, aufgrund ihres technischen Ursprungs, mit der Vorstellung eines dunklen Durchgangs in Zusammenhang (camera obscura). Man müßte camera lucida sagen (so wurde ein Apparat genannt, ein Vorläufer der Kamera, mit dessen Hilfe man einen Gengenstand durch ein Prisma hindurch zeichnen konnte, das eine Auge auf die Vorlage, das andere auf das Papier gerichtet)“.

Der Grund für diese Ausklammerung liegt Barthes zufolge letztlich darin, dass es bei der Bestimmung des Wesens der Fotografie nicht um die Frage gehe, ob die Fotografie ein Analogon der Welt ist und ob „die photographische Optik der (ganz und gar historischen Perspektive Albertis) untergeordnet ist und die Belichtung der Filmschicht aus einem dreidimensionalen Gegenstand ein zweidimensionales Bild macht“. Diese namentlich von Soziologen und Semiologen geführte Debatte sei „fruchtlos“. Und zwar nicht, weil sich „das analogische Wesen“ der Fotografie nicht von der Hand weisen lasse, sondern weil „das Noema der PHTOTOGRAPHIE mitnichten in der Analogie zu suchen“ ist, sondern in der „Zeugenschaft der PHOTOGRAPHIE“, in ihrem „Es-ist-so-gewesen“.

Vilém Flusser

Barthes Name fällt in Flussers für eine philosophie der fotografie nicht. Die Helle Kammer ist jedoch unüberhörbar Flussers Bezugspunkt: „Die seitens der technischen Bilder scheinbar bedeutete Welt scheint ihre Ursache zu sein und sie selbst ein letztes Glied in einer Kausalkette, die sie ohne Unterbrechung mit ihrer Bedeutung verbindet: Die Welt reflektiert Sonnen- und andere Strahlen, welche mittels optischer, chemischer und mechanischer Vorrichtungen auf empfindlichen Oberflächen festgehalten werden und als Resultat technische Bilder hervorbringen, das heißt sie scheinen auf der gleichen Wirklichkeitsebene zu liegen wie ihre Bedeutung.“

Demgegenüber stellt Flusser apodiktisch fest: „Das technische Bild ist ein von Apparaten erzeugtes Bild.“ Dass technische Bilder einen unsymbolischen, objektiven Charakter haben, sei „eine Täuschung“, die sich insbesondere in der irrtümlichen Neigung zeigt, Bilder „nicht als Bilder, sondern als Fenster“ zu betrachten.

Flusser spricht sich damit nicht nur gegen eine ontologische Auffassung der Fotografie aus, wie sie von Barthes vertreten wird. Sein „Versuch“ bezieht im Begriff des Apparates ausdrücklich auch den physikalischen Teil mit ein. Was gebraucht werde, ist eine Kritik der technischen Bilder, die alle apparativen Aspekte berücksichtigt, die bei ihrer Erzeugung eine Rolle spielen. In Anlehnung an Walter Benjamins Verdikt in der Kleinen Geschichte der Photographie, „dass nicht der Schrift-, sondern der Photographieunkundige der Analphabet der Zukunft sein wird“, formuliert Flusser: „Die Codierung der technischen Bilder geht aber nun einmal im Inneren dieser Black Box ‚Apparat/Operator‘ vor sich, und folglich muß jede Kritik der technischen Bilder darauf gerichtet sein, ihr Inneres zu erhellen. Solange wir über eine derartige Kritik nicht verfügen, bleiben wir, was die technischen Bilder betrifft, Analphabeten.“

Retina: Bild, Netzhaut, Display

Bereits die frühen Fotografien wurden mit Netzhäuten verglichen. Nicéphore Nièpce, der Erfinder der Heliografie, von dem die erste bis heute erhaltene Fotografie stammt, spricht beim Versuch, die Bilder zu beschreiben, die er bei seinen Experimenten erhalten hatte, von „rétines“. Diesen Metapherntransfer setzte Kühne, der Entdecker des Sehpurpurs, Ende der 1870er Jahre fort. Für ihn war das Auge nicht mehr nur Fotoapparat, sondern ein ganzes Fotolabor. Die Netzhaut betrachtete er als fotochemische Platte und das Bild, das sich auf ihr entwickelte, als Optographie. In jüngster Zeit schreibt Apple mit dem sogenannten Retina-Display diese Naturalisierung fort.

Wie das Bild bei Nièpce steht dabei vorgeblich auch Apples Retina-Display in nichts der Leistung der menschlichen Netzhaut nach. Laut Apple soll das menschliche Auge nicht in der Lage sein, aus einem typischen Betrachtungsabstand einzelne Pixel zu erkennen.

Hier wie dort ist die Funktion dieser Naturalisierung gleichwohl unübersehbar. Kühne versuchte mit der Photochemie der Netzhaut die fotografische Objektivität des Auges und damit die Theorie der Repräsentation, die seit Descartes und Bacon Wahrnehmung als Projektion begriff, gegen die sogenannte physiologische Optik eines Hermann von Helmholtz zu verteidigen, die sich in dieser Zeit begann durchzusetzen. Für Apple ist die Naturalisierung ein Mittel des Marketings, das im Wettbewerb mit den Konkurrenten eingesetzt wird. Apple geht aber noch einen Schritt weiter. Indem Apple Retina als Markennamen beim United States Patent and Trademark Office registrieren lässt, sichert sich die Firma gleich noch das exklusive Recht auf diese Naturalisierung.