„Die Augen schließen bedeutet, das Bild in der Stille zum Sprechen zu bringen.“
Roland Barthes identifiziert in der Hellen Kammer bei seinem Versuch, das Wesen der Fotografie zu ergründen, zwei Haltungen, die der Betrachter Fotografien gegenüber einnimmt: studium und punctum.
Mit studium bezeichnet er die Haltung, in der sich ein Betrachter interessiert und beflissen, aber „ohne besondere Heftigkeit“, Fotografien zuwendet. Das punctum dagegen bezeichnet ein Element, das den Betrachter gegen seinen Willen aufsucht und das studium durchbricht und aus dem Gleichgewicht bringt. Die Überwältigung des souveränen Bewußtseins durch das punctum wird dabei gekennzeichnet als „Verletzung“, „Stich“, „Mal“ oder „Schnitt“.
Gegen Ende des ersten Teils seiner Bemerkungen zur Photographie unternimmt Barthes dann den Versuch, die Merkmale des punctum zu bestimmen. Was im Sinne des punctum „besticht“ sind das absichtslose Detail; die Erschütterung, die sich nicht entwickelt, sondern einfach und „ohne Verlangen nach einer rhetorischen Expansion“ da ist; die Unbenennbarkeit, die untrügliches Anzeichen für die durch das punctum verursachte „innere Unruhe“ ist; das blinde Feld, das sich durch die Anwesenheit eines punctum bezeugt und das den Betrachter versichert, das der, der auf der Fotografie abgebildet ist ein ganzes Leben besaß, das sich außerhalb des Porträts abspielte.
Von besonderer Bedeutung ist jedoch das Merkmal, das Barthes im 22. Abschnitt seiner Bemerkungen nennt: die Verzögerung, mit der der Betrachter dem punctum zumindest hin und wieder erst auf die Spur kommt. Diese Verzögerung steht nicht nur in Wiederspruch zur Unmittelbarkeit des punctum. Mit ihr verschiebt sich auch der Schwerpunkt entschieden vom Sehen auf das Denken, das allerdings nichts mit „irgendeiner genauen Untersuchung“, also dem studium, zu tun habe. Das Sehen erscheint nun sogar als ein Vorgang, der in besonderer Weise das studium auslöst: „Es kann“, so Barthes, „vorkommen, daß ich ein Photo, an das ich mich erinnere, besser kenne als eines, das ich vor mir sehe, so als ob der unmittelbare Anblick die Sprache in die Irre führte, ihr die Mühe der Beschreibung abverlangte, die stets den springenden Punkt der Wirkung, das punctum, verfehlen wird“.
Barthes zieht daraus den überraschenden Schluss, dass das Wegschauen die angemessenste Weise ist Fotografien zu betrachten: „Im Grunde – oder äußerstenfalls – ist es besser, den Kopf zu heben oder die Augen zu schließen, wenn man ein Photo betrachten will: nichts sagen, die Augen schließen, das Detail von allein ins affektive Bewußtsein aufsteigen lassen.“ Die richtige Art, ein Bild zu betrachten, ist also das „zweite Gesicht“, eine Betrachtung mit dem geistigen Auge.
Ein Beispiel für eine solche Betrachtung mit dem zweiten Gesicht – und zugleich auch das einzige Bild, bei dem Barthes ein schon identifiziertes punctum korrigiert – ist die Fotografie Familienporträt von James Van der Zee. Hatte Barthes bei diesem Bild das punctum nur wenige Seiten zuvor im Detail eines weiten Gürtels ausgemacht, so erscheint ihm nun als das „wahre punctum“ eine Kette, die eine der abgebildeten Frauen trägt.