Thomas Bernhard kauft sich ein Auto und fährt bis nach Retz

„Und die Wahrheit ist, daß ich nur im Auto sitzend zwischen dem einen Ort, den ich gerade verlassen habe und dem andern, auf den ich zufahre, glücklich bin, nur im Auto und auf der Fahrt bin ich glücklich, ich bin der unglücklichste Ankommende, den man sich vorstellen kann, gleich, wo ich ankomme, komme ich an, bin ich unglücklich. Ich gehöre zu den Menschen, die im Grunde keinen Ort auf der Welt aushalten und die nur glücklich sind zwischen den Orten, von denen auf der Welt und auf die sie zufahren. Ich bin der glücklichste Reisende, sich Bewegende, Fahrende Fortfahrende, ich bin der allerunglückliste Ankommende.“
Thomas Bernhard, Wittgensteins Neffe

Der Autofahrer Thomas Bernhard

Thomas Bernhard bezeichnete sich wiederholt als ein „leidenschaftlicher Fahrer“ und als ein vom „Geist des Motorischen Beseelter“. Karl Ignaz Hennetmair berichtet in seinem versiegelten Tagebuch „Ein Jahr mit Thomas Bernhard“ aus dem Jahr 1972 über ihn, er sei geradezu „radikal“ und von einer manischen Pedanterie bei der Pflege seiner Autos gewesen. Penibel habe er Service-Intervalle bei seinen Fahrzeugen eingehalten und Werkstätten mussten bei Reparaturaufträgen öfter mit unangekündigten Kontrollbesuchen rechnen.

Überhaupt: Was hat Thomas Bernhard nicht alles an Fahrzeugen besessen, gefahren und geliebt. Vom Preisgeld der ersten Auszeichnung „für eine schriftstellerische Arbeit“, dem Julius-Campe-Preis für den Roman „Frost“, kaufte er sich 1964 aus dem Schaufenster eines „der elegantesten Autohäuser von Wien“ heraus das „erste Auto“ in seinem Leben: einen Triumph Herald Roadster. Einen „Luxuswagen“, wie er in „Meine Preise“ ausdrücklich betont“, „elegant“, „englisch“, „weiß, mit roten Ledersitzen und einem hölzernen Armaturenbrett.“ In den späten 60ern und frühen 70ern dann war es ein „knallgelber“ VW Käfer, über den Elfriede Jelinek bei einem Besuch Bernhards anmerkt, er sei „ein Fremdkörper in der Umgebung“ gewesen, der „gleich ins Auge sticht“. Es folgte ein VW 1600 Variant, der im auf der ewigen Baustelle seines Hauses in Obernahtal über viele Jahre als Arbeiter- und Materialtransporter diente. Ende der siebziger Jahre dann kaufte er sich ein „richtiges Kapitalisten-Auto“, einen Mercedes Benz W 123, der es 2008 sogar bis in eine Ausstellung des Technischen Museums Wien geschafft hat und dem nachgesagt wird, er sei „tannengrün bis in die Radkappen“ gewesen. Und schließlich das letzte Auto: ein Suzuki Samurai, das sich Bernhard 1988 elf Monate vor seinem Tod zulegte und das ihm „das liebste“ war. Es sollte ihn, der zu diesem Zeitpunkt schwer von seiner Lungenkrankheit gezeichnet war, dort hinbringen, wo er zu Fuß nicht mehr hinkam. Mit seinem Suzuki, so sein Bruder Peter Fabjan, sei er „besonders gern unterwegs gewesen“. Und mit dem Suzuki habe er auch seine letzte Ausfahrt gemacht.

Bei alledem darf selbstverständlich auch Bernhards Traktor nicht vergessen werden, ein McCormick-Traktor B 414, an dem er eine Plakette hatte anbringen lassen, auf der er sich, für alle sichtbar, auswies als „Thomas Bernhard vlg. Bauer zu Nahtal“ und mit dem er manchmal durch das Aurachtal fuhr, um Möbel zu einem seiner Häuser, der „Krucka“, zu transportieren.

Und ja: fehlen darf auch nicht das Steyr-Waffenrad seines Vormundes, auf dem er „die größte Entdeckung“ seines damals noch jungen Lebens gemacht habe: „ich hatte meiner Existenz eine neue Wendung gegeben, möglicherweise die entscheidende der mechanischen Fortbewegung auf Rädern.“

Auto und Autounfall

Wenn Thomas Bernhard von Autos und vom Autofahren erzählt, dann ist der Unfall indes nicht weit. Matthias Bickenbach arbeitet in seiner fragmentarischen Kulturgeschichte des Autounfalls heraus, dass sich im Unfall jenseits des Traumas vom Verlust der Selbstbestimmung im Verlust über die Kontrolle zeigt, dass der Unfall der Fall der Geschwindigkeit selbst ist: „Der traumatische Verlust der Kontrolle, der so oft in Unfallnachrichten benannt wird, korrespondiert dem Risiko, das die Geschwindigkeitsmaschine selbst hervorbringt.“

Dass sich in Thomas Bernards Lebenserzählungen und seiner Prosa permanent Unfälle ereignen, kommt so gesehen nicht von ungefähr. Der „Schiffbruch der Geschwindigkeit“, der sich im Unfall mit Bewegungsmittelen aller Art zeigt, macht den Unfall zum idealen Sinnbild einer Auffassung vom Leben, das nichts Anderes als Scheitern sein kann. Wer von Auto und Fahrzeugen spricht, muss also auch vom Unfall sprechen. Es gilt aber auch: Wer vom Leben spricht, muss auch vom Unfall sprechen.

Unfallgeschichten

Unfallgeschichten ziehen sich durch Bernhards Leben und Schreiben. Peter Fabjan, der Halbbruder Thomas Bernhards, berichtet in einem kurzen Text, der den Titel „Der Dichter und das Auto“ trägt, von einem Unfall, den Bernhard Anfang der achtziger Jahre hat. Bernhard jagt mit Tempo 160 über eine Autobahn: „Plötzlich hat’s einen Knall gegeben, die Windschutzscheibe ist zersplittert. Erst als er am Pannenstreifen war, hat der Thomas bemerkt, dass alles voller Blut war. Voller Blut und Splitter. Auch der Dachhimmel, die Sitze, alles voll. Als er sich dann umgedreht hat, hat er ihn gesehen, den Fasan, der da durch die Scheibe geschossen ist. Völlig zerfetzt. Auf der Hutablage. Glück hat er gehabt, der Thomas, der Vogel ist nur knapp an seinem Kopf vorbeigeschossen.“

Thomas Bernhard hat diesen Unfall in seiner ihm eigenen Art kleingeredet. Gegenüber Joachim Unseld kommentierte er den Unfall lakonisch: „Das hätte buchstäblich, wie man sagt, ins Auge gehen können“. Und, so fügt er an anderer Stelle hinzu, die Fananenhenne habe kurz vor dem Ableben sogar noch ein Ei gelegt.

Tatsächlich und buchstäblich ins Auge geht ein solcher Autounfall dann in Bernhards Roman „Auslöschung. Ein Zerfall“. Bei dem Unfall, bei dem die Eltern und der Bruder des fiktiven Erzählers Franz-Josef Muraus tödlich verunglücken, durchstößt eine Traverse auf dem LKW, auf den der Vater mit hoher Geschwindigkeit auffährt, die Frontscheibe des elterlichen Jaguar und trennt den Kopf der Mutter vom Rumpf ab. Die groteske Szene macht unzweifelhaft die „Gewalt der Geschwindigkeit“ bewusst, die laut Bickenbach in der automobilen Gesellschaft verdrängt ist und die dem Traum der Autonomie immer schon entgegenarbeitet. In Bernhards letztem großen Prosawerk geht es im Trauma des Unfalls aber nicht um die Dekonstruktion von Selbstbestimmung und Autonomie. Verhandelt wird am Unfallgeschehen, das nur mehr im fotografischen Bild verfügbar ist, das Verhältnis von Abbild und Vorbild, von Zeichen und Bezeichnetem, Referent und Signifikant. Dieses Verhältnis ist eines der Beziehungslosigkeit. Was dem fiktiven Erzähler bleibt, das ist das in Zeitungen massenhaft verbreitete Bild der kopflosen Mutter, dessen Wahrheitsgehalt er aber nicht überprüfen kann, weil er den bereits verschlossenen Sarg der Mutter trotz mehrfacher Versuche nicht öffnen kann.

Eine gänzlich andere Wendung nimmt das Unfallgeschehen in Thomas Bernhards autobiographischer Erzählung „Ein Kind“ aus dem Jahr 1982. In dieser Erzählung berichtet Bernhard, wie er sich als Achtjähriger, kaum dass er das Fahrradfahren gelernt hat, aus heiterem Himmel und ohne jemanden um Erlaubnis zu fragen entscheidet, auf dem Steyr-Waffenrad seines Vormundes von Traunstein nach Salzburg zu radeln, um dort eine Tante zu besuchen. Das triumphale, „beispiellose Hochgefühl“ und die „Glückseligkeit“ des Achtjährigen schlagen mit einem Mal aber um in tiefste Depression und Selbstverurteilung. Hinter Straß reißt die Kette des Fahrrads und das eben noch triumphierend Kind findet sich im Straßengraben wieder. Die Landschaft, die eben noch in „zusehends beschleunigter Geschwindigkeit“ „durcheilt“ wurde, wird durch ein Unwetter zu einem „Inferno“, dessen „Wassermassen“ alles von der Straße zu spülen drohen. Hat der Achtjährige das Radfahren eben noch als „Kunststück“ und sich selbst als „ein ganz besonders intelligenter und mit ganz besonderen Geistesgaben ausgestatteter Mensch“ imaginiert, dem nur noch die gebührende Bewunderung fehle, so verurteilt er sich mit einem Mal wegen seines Verhaltens zur „Höchststrafe“. Eben noch zugehörig zur „auserwählten Klasse der Radfahrer“ sieht er sich urplötzlich ausgeschlossen aus dem Kreis der Menschen: „Ich war grausam, ich war niederträchtig, ich war hinterhältig, ich war, das war das Schlimmste, gefinkelt. Die ganze menschliche Gesellschaft stand mir als einzigem, der nicht zu ihr gehörte, gegenüber. Ich war ihr Feind. Ich war der Verbrecher. Ich verdiente es nicht mehr, in ihr zu sein, sie verwahrte sich gegen mich.“

Wo die Kunst des Radfahrens scheitert, weil der Radausflug mit einem Unfall endet, da gelingt die Kunst des Erzählens, indem sie das Unfallgeschehen zu ihrem Gegenstand macht. Sie leistet, was die Kunst des Radfahrens nicht zu leisten vermag, nämlich „mein Vergehen oder gar Verbrechen auszulöschen“. Auf dem nächtlichen Rückweg zum Großvater, der ihn vor dem Zorn und der Strafe der Mutter beschützen soll, „bosselt“ das Kind „bis in die kleinsten Einzelheiten“ an der „dem Großvater vorzutragenden Erzählung“. Heraus kommt „ein wohlgelungenes Kunstwerk, dessen Wirkung nicht ausbleibt, auch wenn das Kind seine Geschichte zunächst nicht dem schriftstellernden Großvater sondern dem gleichaltrigen Freund Schorschi erzählt. Der Leser wird Zeuge der Geburt des souveränen Erzählers, der das Wissen um die Vorlieben seines Zuhörers, sein Material und auch die Dramaturgie des Erzählens von einem Augenblick auf den anderen nach allen Regeln der Kunst einzusetzen weiß:

„ich setzte mich mit ihm in sein kaltes Zimmer und erzählte ihm meine Geschichte. Sie hatte die erwartete großartige Wirkung auf ihn. Alles, was ich sagte, bewunderte er, und mit jeder neuen Wendung in meinem Bericht war seine Bewunderung eine noch größere. Ich selbst genoß meinen Bericht so, als würde er von einem ganz andern erzählt, und ich steigerte mich von Wort zu Wort und gab dem Ganzen, von meiner Leidenschaft über das Berichte selbst angefeuert, eine Reihe von Akzenten, die entweder den ganzen Bericht würzende Übertreibungen oder sogar zusätzliche Erfindungen waren, um nicht sagen zu müssen: Lügen. Ich hatte, auf dem Schemel neben dem Fenster sitzend, den Schorschi auf seinem Bett gegenüber, einen durch und durch dramatischen Bericht gegeben, von dem ich überzeugt war, daß man ihn als ein wohlgelungenes Kunstwerk auffassen mußte, obwohl kein Zweifel darüber bestehen konnte, daß es sich um wahre Begebenheiten und Tatsachen handelte. Wo es mir günstig erschien, hielt ich mich länger auf, verstärkte das eine, schwächte das andere ab, immer darauf und im übrigens mich als den Mittelpunkt meines dramatischen Gedichts niemals außer acht zu lassen. Ich wußte, was dem Schorschi imponierte und was nicht, dies Wissen war die Grundlage meines Berichts. Es war hellichter Tag, als ich mit meinem Bericht zu Ende war. Ich hatte die Fähigkeit, mein klägliches Scheitern am Ende mit ein paar kurzen Sätzen zu einem Triumph zu machen.“

Überraschend positiv liest sich auch der Bericht über den Unfall, den Bernhard bald nach dem Kauf des Triumph Herald Roadster, von dem bereits die Rede war, bei einem Urlaub an Istrien hat. Im Hochgefühl der Fertistellung seiner Erzählung „Amras“ unternimmt er eine Spritztour, bei der ihm ein Auto auf einer Küstenstraße die Vorfahrt: „Dort, wo die große Felswand vor Opatija in der Abendsonne grell aufleuchtet, bog ein Wagen von links in meine Fahrbahn ein, er krachte direkt in die Vorderseite meines Wagens und zerquetschte sie vollkommen.“ Der Triumph Herald Roadster ist zwar nurmehr ein „Blechhaufen“ und auch Bernhard, der „aus dem Wagen geschleudert“ wird, zieht sich eine Platzwunde am Kopf zu, die stark blutet. Das Resümee Bernhards fällt dann aber alles in allem recht lakonisch aus. Bernhard ist zwar „sehr enttäuscht“, beschließt seinen Bericht über das Ende seines „Autoglücks“ aber mit den Worten: „Mein Herald war ein Blechklumpen, ich ging ein paarmal um ihn herum und ich dachte, daß ich nur eintausendzweihundert Kilometer damit gefahren bin. Schade.“ Der Unfall in Istrien erscheint dem Erzähler allenfalls als ein „Mißgeschick“, da er „wie durch ein Wunder mit dem Leben davongekommen“ sei. Verzweiflung, Niedergeschlagenheit oder Selbstverurteilung, die man bei Bernhard hätte erwarten können, bleiben aus. Zuguterletzt werden sogar alle Forderungen des „Nobelanwalts“ gegenüber den jugoslawischen Versicherungen „zur vollsten Zufriedenheit“ Bernhards erfüllt: der Wagen wird ersetzt, worauf sich Bernhard gleich „einen neuen Herald“ kauft, und Bernhard erhält Schmerzensgeld. Obendrauf gibt es sogar noch „eine sogenannte Kleiderabfindung in unglaublicher Höhe“. Bernhard verlässt das Anwaltsbüro denn auch „naturgemäß in der höchsten Befriedigungsklasse“. Fast möchte man sagen: ein Märchen – zu schön, um wahr zu sein. Auf jeden Fall aber stellt der Unfallbericht Bernhards in „Meine Preise“ einen seltenen Glücksmoment dar in seinem ansonsten eher düsteren autobiographischem Schreiben.

Kontrapunkte

Welch eigentümliche Kontrapunkte. Auf der einen Seite der Thomas Bernhard, der Automobile und schnelles, riskantes Fahren liebte. Auf der anderen Seite der, der mit den ersten Erfolgen als Schriftsteller begann, Immobilien zu erwerben, um in ihnen sesshaft zu werden; der „Mauern“ erwirbt, um sich, wie er formuliert, „in ihnen einsperren zu können.“ Als wäre das eine nicht ohne das andere denk- und lebbar: die Mobilität nicht ohne die Sesshaftigkeit und die Sesshaftigkeit nicht ohne die Mobilität. Dass es am Ende dann aber vielleicht doch das Unterwegssein war, das für Bernhard wichtiger war, dafür könnte eine oft zitierte Passage aus Bernhards Erzählung „Wittgensteins Neffe“ ein Beleg sein. In ihr heißt es: „nur im Auto und auf der Fahrt bin ich glücklich, ich bin der unglücklichste Ankommende, den man sich vorstellen kann, gleich, wo ich ankomme, komme ich an, bin ich unglücklich.“

Zitate aus Thomas Bernhard, Auslöschung. Ein Zerfall (Suhrkamp Verlag, 1986), Meine Preise (Suhrkamp Verlag, 2009), Ein Kind (Suhrkamp Verlag, 2014), Wittgensteins Neffe (Suhrkamp Verlag, 1987)