Gegen den Apparat spielen

„Seile Fluss Nacht“ heißt ein Bildband der schweizerischen Fotografin Simone Kappeler. Betrachtet man die Bilder, die zwischen 1964 und 2001 entstanden sind, fällt die Vielfalt der verwendeten Film- Kamera- und Drucktechniken auf. Der Anhang des Bildbandes listet etwa mehr als zwei Dutzend Kameratypen, wobei das Spektrum von nachgerade mythischen Fotoapparaten wie der Leica II oder der Hasselblad bis zu Wegwerfmodellen wie der Lomo-Kamera Diana reicht. Nicht minder überraschend sind die Bilder, die mit den verwendeten Fotoapparaten und Filmmaterial über einen Zeitraum von fast vierzig Jahren entstanden. Die Palette reicht von perfekt ausbelichteten und scharfen Bildern zu Bildern in Fehlfarben und rätselhaft anmutenden Farbverschiebungen oder unscharfen Aufnahmen, ohne dass eine Parteinahme für eines der Aufnahmeverfahren erkennbar wäre.
 

 
Vilém Flusser schreibt am Ende von „für eine philosophie der fotografie“: „Erstens, man kann den Apparat in seiner Sturheit überlisten. Zweitens, man kann in sein Programm menschliche Absichten hineinschmuggeln, die nicht in ihm vorgesehen sind. Drittens, man kann den Apparat zwingen, Unvorhergesehenes, Unwahrscheinliches, Informatives zu erzeugen. Viertens, man kann den Apparat und seine Erzeugnisse verachten und das Interesse vom Ding überhaupt abwenden, um es auf Information zu konzentrieren. Kurz: Freiheit ist die Strategie, Zufall und Notwendigkeit der menschlichen Absicht zu unterwerfen. Freiheit ist, gegen den Apparat zu spielen.“

Indem Simone Kappeler in ihrem Fotografieren aus dem Gewohnten in immer neuen Anläufen das Nochnichtgesehene und Überraschende hervorbringt, realisiert sie programmatisch dieses Spiel gegen den Apparat.

Bodenlos

Bodenlos. Vilém Flusser und die Künste gleicht weniger einem Parcours, einer festgelegten Strecke, denn einem Netzwerk, das mehrere Zugänge hat und das man auf unterschiedlichen Wegen begehen kann. Hier wird nicht in herkömmlichen Sinn erzählt. Es gibt keinen Anfang und kein Ende. Die räumliche Anordnung wie auch die Chronologie der Stationen und Exponate spielen keine Rolle. Und tatsächlich kann man die Ausstellung auch über mehrere, gleichberechtigte Zugänge betreten.

Bodenlos. Vilém Flusser und die Künste folgt in Anlage und Ausführung darin ohne Zweifel Flussers Idee einer telematischen Gesellschaft, in der Informationen ohne Einschränkung allen zur Verfügung stehen und prozessiert werden können und in der das Individuum aus der Vielzahl von Kommunikationsfäden entsteht, die es durchlaufen. „Wir müssen davon ausgehen“, schrieb Flusser, „daß wir nicht etwas sind, sondern ein Wie-sich-in-Bindungen-verknoten.“ Der Mensch ist in der telematischen Gesellschaft Künstler und Spieler, nicht Subjekt, sondern Projekt, das sich im Dialog mit anderen und anderem entwirft.

Augenscheinlich wird dies in einem überdimensionalen Tableau, das in einem Netzwerkdiagramm Themen und Autoren zusammenfasst, die Flusser beschäftigt bzw. ihn beeinflusst haben. Das Wechselspiel von Beeinflussen und Beeinflusstwerden zeigt sich aber auch in den ausgestellten Videos, Hologrammen, Fotografien, Drucken und Programmemulationen. Deutlich wird, dass Flusser nicht nur Künstler angeregt hat, sondern selbst auch in die Künste eingegangen ist. Wenn Flusser in Fred Forests Video Les Gestes du Professeur Flusser in etwas theatralischer Manier professorale Gesten vorführt,  dann geschieht das nicht ohne ironischen Bezug auf sein Buch Gesten. Versuch einer Phänomenologie. Und dass ein Computer, wie Flusser nicht müde wurde zu wiederholen, nicht nur kalkulieren, sondern komputieren, also Neues erschaffen kann, mündete in jenes fiktive, von Louis Bec Anfang der 1970er Jahre gegründete Institut Scientifique de Recherche Paranaturaliste, das sich in künstlerischer Weise der Weiterführung der biologischen Evolution und der Simulation neuer Lebewesen widmete. Vertreten ist natürlich auch die generative Fotografie, als einer deren Hauptvertreter der Fotograf Andreas Müller-Pohle gilt, der seit den frühen 1980er Jahren zudem als Verleger den Schriften Vilém Flussers im deutschsprachigen Raum Geltung verschafft.

Was in der Ausstellung erkennbar wird, ist aber nicht nur die Vielschichtigkeit eines weniger interdisziplinären, denn transdisziplinären Denkers und Denkens. Erkennbar wird zuweilen auch Wiedersprüchliches. Flussers Hang zum Monologisieren etwa, der schon zu seinen Lebzeiten nicht unwiedersprochen blieb und der im Wiederspruch steht zu der immensen Bedeutung, die Flusser dem Dialog insbesondere in seinem Entwurft einer telematischen Geselllschaft beimaß. Auch Flusser selbst ist dies nicht entgangen:  „Ich muss Sie warnen“, beginnt er einen Brief an einen Freund, der in der Ausstellung ausgestellt ist: „dieser Brief wird lang werden.“

Nicht minder wiedersprüchlich aber auch, dass er auf der einen Seite dem mündlichen Vortrag zeitlebens eine immense Bedeutung zumaß, in seinem pointierten geschichtsphilosophischen Diskurs über Vorgeschichte, Geschichte und Nachgeschichte die gesprochene Sprache aber rigoros außer Acht ließ.

Bodenlos. Vilém Flusser und die Künste – noch bis zum 18. Oktober 2015 im ZKM in Karlsruhe und dann vom 19. November 2015 bis 10. Januar 2016 in Berlin in der Akademie der Künste.

Bildquellen
Flusser Studies
ZKM Karlsruhe

Manipulationen

Vilém Flusser: Fotograf und Objekt

Vilém Flusser identifiziert bei seiner phänomenologischen Analyse der fotografischen Geste drei wichtige Aspekte: die Suche nach einem Standort, von der aus die Situation zu betrachten ist; die Manipulation der Situation, um sich dem gewählten Standort anzupassen; sowie die kritische Distanz, die den Erfolg oder das Scheitern dieser Anpassung zu sehen gestattet.

Die Manipulation ist Flusser zufolge dabei der Aspekt, der die Geste des Fotografierens am stärksten als Geste kennzeichnet. Insbesondere steuert die Manipulation die Suche nach dem Standort. Eine Manipulation liegt in der fotografischen Geste in mehrfacher Hinsicht vor.

Der Fotograf greift zum einen in technischer Hinsicht „aktiv in den optischen Prozess ein“: indem er beispielsweise die Beleuchtungssituation anpasst, eigene Lichtquellen einführt oder Spezialfilter verwendet. Zum anderen werden der Fotograf und das Objekt selbst in der Aufnahmesituation modifiziert. „Zwischen dem Fotografen und seinem Bildmotiv“, notiert Flusser, „etabliert sich ein komplexes Gewebe aus Aktion und Reaktion (aus Dialog), obwohl die Initiative natürlich aufseiten des Fotografen liegt und der fotografierte Mensch der geduldig (oder auch ungeduldig) Wartende ist. Auf seiner Seite führt dieser zweifelhafte Dialog zu jener Mischung aus Befangenheit und Exhibitionismus (dem Produkt des Umstands, der Mittelpunkt einer objektivierenden Aufmerksamkeit zu sein), die eine ‚aufgesetzte Haltung‘ zur Folge hat (der Wartende erschwindelt das Motiv). Das führt aufseiten des handelnden Fotografen zu jener seltsamen Empfindung, zugleich Zeuge, Ankläger, Verteidiger und Richter zu sein, einer Empfindung des schlechten Gewissens, die sich in seinen Gesten in ein Objekt zu verwandeln. In Anbetracht dessen, dass Fotografieren ein Scheindialog ist, erschwindelt auch er das Motiv.“ Die Manipulation als bestimmender Aspekt des fotografischen Geste ist also erkennbar eine gegenseitige: „eine Situation zu beobachten heißt, sie zu manipulieren, oder anders gesagt, die Beobachtung verändert das beobachtete Objekt. Gleichermaßen gilt, dass eine Situation zu beobachten heißt, eben dadurch verändert zu werden, die Beobachtung verändert den Beobachter. Der Fotograf kann nicht anders, als die Situation zu manipulieren, seine bloße Anwesenheit ist eine Manipulation. Und er kann nicht vermeiden, durch die Situation modifiziert zu werden, die bloße Tatsache, sich darin zu befinden, hat ihn verändert.“

Der Wechsel von der analogen zur digitalen Fotografie ändert an dieser Aufnahmesituation grundsätzlich wenig. Zwar entfallen Manipulationsmöglichkeiten wie etwa die Wahl des Filmmaterials, diese werden aber durch andere wie zum Beispiel softwaregesteuerte Motivprogramme überkompensiert. Hinzu kommen die erweiterten Möglichkeiten der digitalen Bildmanipulation, die zwar erst nach der Aufnahme stattfindet, die aber bereits während der Aufnahmesituation einkalkuliert wird. Unter den Bedingungen der analogen Fotografie waren die Verfahren des Entwickelns, des Vergrößerns und des Retuschierens Techniken, die, wie Flusser formuliert, „außerhalb der Situation“ standen. Unter den Bedingungen der digitalen Fotografie und der augenblicklichen Verfügbarkeit des Bildes noch in der Aufnahmesituation, wird die Bildmanipulation zunehmend Teil der Aufnahmesituation.

Roland Barthes: Objekt, Bild und Betrachter

Flussers Aufmerksamkeit gehört in Die Geste des Fotografierens ganz dem Dialog und der gegenseitigen Manipulation von Subjekt (Fotograf) und Objekt (Gegenstand der Aufnahme). Das materiale Ergebnis dieser Geste, das Bild, wie auch der Betrachter eines Bildes spielen in seiner phänomenologisch ausgerichteten Analyse der fotografischen Geste keine Rolle.

Ganz anders Roland Barthes. Zwar identifiziert auch er in Die helle Kammer die drei Aspekte „tun, geschehen lassen, betrachten“. Den „operator“, also den Fotografen, nimmt er aus Mangel an eigenen Erfahrungen aber sogleich und weitestgehend von den weiteren Betrachtungen aus: „Aber von diesem Gefühl (oder diesem Wesen) konnte ich nicht sprechen, da ich es nie gekannt hatte“. Seine Aufmerksamkeit gilt dem „spectrum“ und dem „spectator“, also dem betrachteten und dem betrachtenden Subjekt, und mit dem betrachtenden Subjekt auch dem materialen Bild.

Nur an einer Stelle gerät der operator / Fotograf in den Blick. Da nämlich, wo Barthes das „PHOTOGRAPHISCHE PORTRÄT“ als ein „geschlossenes Kräftefeld“ definiert, in dem sich die Tätigkeiten, Gefühlsregungen und Absichten von spectrum / Objekt und operator / Fotograf überschneiden: „Vor dem Objektiv bin ich zugleich der, für den ich mich halte, der, für den ich gehalten werden möchte, der, für den der Photograph mich hält, und der, dessen er sich bedient, um sein Können vorzuzeigen.“ Indem Barthes diese vier Größen als „imaginäre Größen“ bezeichnet, bleibt er seiner Perspektive und das heißt dem Ausschluss des operator / Fotografen auch an dieser Stelle aber treu. Das Kräftefeld, von dem er spricht, denkt den operator / Fotografen eben nur als imaginäre Größe, nicht als tatsächlichen Akteur in einem Dialog, wie dies Vilém Flusser tut. Im Mittelpunkt von Barthes Betrachtungen steht die Frage, was die „PHOTOGRAPHIE“ mit dem Betrachteten und dem Betrachter macht.

Wie Vilém Flusser konstatiert auch Barthes, dass der Gegenstand durch die „Geste“ des Fotografen manipuliert wird. Bei Barthes ist diese Manipulation indes in zweifacher Hinsicht verschärft. Die Objektwerdung des Subjekts vor der Kamera, die das Subjekt durch seine „Pose“ miterfüllt, erscheint nicht mehr nur als vergebliche „Hochstapelei“ mit dem Ziel zu Gefallen und ein möglichst gutes und wahrheitsgetreues Bild seiner selbst abzugeben. Was das Subjekt vor der Kamera „im kleinen“ erfährt, wenn es fühlt, wie es vom Subjekt zum Objekt wird, ist „das Ereignis des Todes“. In diesem Sinne kann Barthes im Hinblick auf das Bild als dem materialen Ergebnis und den Betrachtenden auch formulieren, dass der Beigeschmack, der jeder Fotografie eigen ist, „die Wiederkehr des Toten“ ist. Der Tod ist „das eidos“ jeder Fotografie.

Zum anderen zwingt das „Gesellschaftsspiel“, das die Aufnahmesitation regelt, den fotografierten Körper in eine Zeichenordnung, die ihm nicht nur den ersehnten „Nullpunkt“ des „anatomischen Körpers“ versagt. Das Bild seiner selbst ist, einmal im Umlauf gebracht, eben weil es Zeichen ist durch andere beliebig für deren Zwecke verfügbar: „die anderen – der ANDERE – entäußern mich meiner selbst, machen mich blindwütig zum Objekt, halten mich in ihrer Gewalt, verfügbar, eingereiht in eine Kartei, präpariert für jegliche Form von subtilem Schwindel“.

Standpunkte zum Trinkglas

„Wir sagen zum Beispiel immer noch, ein Trinkglas sei kreisrund, obwohl es dies nur von einem einzigen, höheren Standpunkt aus ist, nämlich sub specie aeterni. Von anderen Standpunkten aus ist seine Öffnung elliptisch, oder es ist eine Gerade. Die Frage, wie es denn damit in Wirklichkeit steht, ist ein Unsinn. Man kann hingegen sagen, daß die Öffnung des Trinkglases von einem Schwarm von Standpunkten umgeben ist (daß sie den Kern eines Relationsfeldes bildet) und immer wirklicher wird, je mehr Standpunkte ihr gegenüber eingenommen werden. Die Trinkglasöffnung ist jedoch nie gänzlich zu verwirklichen, weil es zahllose, vielleicht unendlich viele Standpunkte gibt, die eingenommen werden müßten. Das eben meint man, wenn man sagt, das Trinkglas sei ‚konkret‘: Es wachsen in ihm (‚concrescere‘) zahllose Standpunkte ineinander. Ebenso wie es ein Unsinn ist, nach der wirklichen Form der Trinkglasöffnung zu fragen, ist es ein Unsinn, von einer Fotografie zu sagen sie sei ein objektives Abbild dieser Trinkglasöffnung. Im Gegenteil: Sie ist ein Standpunkt zur Trinkglasöffnung und als solcher ein kleiner Beitrag zur Verwirklichung des Trinkglases. Das ist es, was der gesunde Menschenverstand noch immer nicht verdaut hat.“

Vilém Flusser, Die fotografische Geste (1986)

Kein Dreiakter

Man hat Vilém Flusser vorgehalten, dass seine Kulturgeschichte als Kulturgeschichte der medialen Codes Bild, Schrift und Techno-Bild die lineare Struktur der Textualität zwar verwerfe, ihr aber dadurch verhaftet bleibe, dass sie selber linear angeordnet ist. Indem er Geschichte als Medienkulturgeschichte entwerfe, die mit den ihnen korrespondieren Medien Bild, Schrift und Techno-Bild drei große kulturtechnische Perioden durchläuft, bewege er sich in jenen „Mustern des skripturalen Schemas“, das Geschichte in einem „impliziten Hegelianismus“ als erzählbare Geschichte als Dreiakter dramatisiert.

Betrachtet man nur den Inhalt der Narration, mag dies gerechtfertigt sein. Wenn man jedoch in den Blick nimmt, wie Flusser den Dreiakter erzählt, so wird schnell deutlich, dass die narrative Praxis, die sein Schreiben kennzeichnet, jenseits der linearen Ordnung der Textualität stattfindet.  Thematik, Methodik, Genre und Format seiner Schriften sind äußerst vielgestaltig und unübersichtlich. Flusser denkt in Fragmenten und Konstellationen. Seine Gegenstände umkreist und ertastet er, wobei nicht immer klar ist, worauf er sich bezieht oder woran er anschließt. „Eher haben wir es mit nicht abgeschlossenen Theorien, mit ‚Texten an der Arbeit‘ oder ‚Projekten‘ zu tun, die kein definitives Urteil erlauben“, resümiert Dieter Mersch in Medientheorien das Denken Vílem Flussers.

Der narrativen Praxis entspricht die Erfahrung der Lektüre. Sein Schreiben folgt der Logik des Bildes: es ist nicht linear, sondern entfaltet sich wie ein Bild in der Beziehung seiner Elemente. Flussers Essay für eine philosophie der fotografie beispielsweise muss man nicht vom Anfang zum Ende hin lesen. Die Lektüre kann mit jedem Kapitel beginnen.

Literatur
Dieter Mersch: Medientheorien zur Einführung

RoboPhot

In seinem Aufsatz Die fotografische Geste identifiziert Vilém Flusser zwei „Grenzfälle“ der komplexen Bewegung eines Apparats und eines diesen Apparat hantierenden Menschen. Am einen Ende der Skala steht die menschliche Bewegung, in der der Apparat still steht und nur der Mensch sich bewegt. Beispielhaft findet sich diese „Normalsituation des Fotografen“ im Fotoatelier des 19ten Jahrhunderts. Am anderen Ende der Skala findet sich die apparatische Bewegung. In ihr gibt es keinen den Apparat hantierenden Menschen mehr. Nach Flusser wird diese „Vollautomation“ im 21ten Jahrhundert „wahrscheinlich die Normalsituation des Fotografierens“ sein.

Der Schweizer Werbe- und Reportagefotograf Daniel Boschung macht in seinem Projekt The Machine View, das auch auf der diesjährigen Ars Electronica zu sehen ist, die Vollautomation zum Programm seiner Fotografie. Im Besonderen ist es die „Gesichtskartografie“, die die apparatische Bewegung veranschaulicht.

In The Machine View nimmt eine Kamera, die auf einem Industrie-Roboter, der üblicherweise in der Automobilindustrie eingesetzt wird und der von einer eigens programmierter Software gesteuert wird, aus nächster Nähe in mehr als 600 Nahaufnahmen ein menschliches Gesicht auf. Die Detailaufnahmen werden mit Hilfe einer speziellen Stitching Software zu einem aus mehr als 900 Millionen Pixel bestehenden Porträt zusammengesetzt. Auf der Webseite zum Projekt kann man in die Gesichter hinein zoomen und von Gesichtspartie zu Gesichtspartie springen.

Erklärtes Ziel des Projektes ist es den Fotografen durch einen Roboter zu ersetzen und so zu einer objektiven Perspektive zu gelangen. Dabei sollen auch die Interaktion zwischen Fotografiertem und Fotografierenden und damit das Posieren des Fotografierten ausgesetzt werden. Boschung will nach eigener Aussage mit seiner Arbeit klären, wie Menschen im 21ten Jahrhundert zu porträtieren sind, damit spätere Zeiten einen Eindruck davon bekommen, welche „Megatrends“ das 21te Jahrhundert ausmachten. Boschung bezieht sich in seinen Selbstinterpratationen dabei allerdings immer noch auf das Modell der Repräsentation: „Meine Porträts bilden die Realität künstlich ab“, sagt Boschung sagt er von seinen Gesichtskartografien. Auf eigentümliche Weise changiert seine Darstellung von The Machine View daher zwischen virtuellem Porträt und des archetypischem Porträt, zwischen Lüge und Wahrheit.

Interessanterweise werden der robotisierten Fotografie die gleichen überraschenden Merkmale und Erfahrungen zugeschrieben wie in ihren Anfangszeiten. Da ist zum einen die Detailgenauigkeit der Gesichtskartografien, die Boschungs betont. Die Kamera erfasse hunderte Bilder von jedem Detail, so Boschung in einem Interview. Und wer vor einem solchen Bild stehe und sich ihm nähere, dem enthüllten sich immer mehr Details, was einen schließlich auch dazu verleite, das Bild für real zu halten. Von der „Genauigkeit und mikroskopische Feinheit“ berichteten auch die Kommentatoren, als sie zum ersten Mal Daguerreotypien zu Gesicht bekamen. Ein Zeitgenosse Daguerres bemerkt: „Das Vergrößerungsglas macht im Gegentheil den unermeßlichen Vorzug dieser von den Strahlen des Tageslichts gestochenen Kupferstiche nur noch einleuchtender; wir entdecken mit jedem Schritt immer neue, immer köstlichere Einzelheiten und unendlich viele Feinheiten und Nüanzierungen, welche dem unbewaffneten Auge in der Wirklichkeit entschlüpfen.“

Aber auch die Voraussetzungen, unter denen die Aufnahmen entstehen, ähneln sich auf überraschende Art und Weise. Walter Benjamin berichtet in Eine kleine Geschichte der Photographie von den Kopfhaltern und Kniebrillen, die in den Anfangszeiten der Fotografie „der langen Expositionsdauer wegen“ als „Stützpunkte“ eingesetzt wurden, um die Porträtierten zu fixieren. Auch Boschung setzt solche Hilfsmittel bei der Aufnahme seiner „Gesichtskartografien“ ein, bei denen der Porträtierte bis zu einer halben Stunde regungslos vor der auf einem Roboterarm montierten Kamera still sitzen muss. Die hochtechnisierte Vollautomation zeigt sich an dieser Stelle ironischerweise technisch genauso unausgereift wie die Fotografie vor 175 Jahren.

Bedingt durch die lange „Expositionsdauer“ gleichen sich die Porträts aus der Frühzeit der Fotografie und die „Gesichtskartografien“ denn auch in einem wesentlichen Merkmal: der Emotionslosigkeit der Gesichter. Auch Boschung betont das Fehlen der Emotionen.Während in den Anfängen der Fotografie die Leblosigkeit der Gesichter ein willkommenes Argument gegen das neue Medium war, ist sie für Boschung kalkuliertes Mittel zum Zweck. Sie erzeugt im Betrachter jenen Konflikt zwischen dem durch den Detailreichtum bedingten Eindruck, dass die Bilder höchst real sind, und dem Eindruck, dass, wie Boschung es formuliert, hier etwas nicht stimmt. Der Echtheit, die durch die bis ins Äußerste getriebene Detailtreue suggeriert wird, steht das Gefühl des Unechten gegenüber. Indem er diesen Wiederspruch der Eindrücke im Betrachter forciert, will Boschung ausloten, wo die Grenze zwischen Realität und Virtualität verläuft.

Vilém Flusser sah in der Fotografie eine Einstellung zur Welt zur Reife gekommen, für die alle Standpunkte gleichwertig und das heißt, im doppelten Wortsinn, auch gleichgültig sind. Fotografieren heißt für Flusser: einen Stanndpunkt suchen, von einen Standpunkt zum anderen springen, wobei das „Springen“ ermöglicht wird durch die „mosaikartige, digitale Innerlichkeit“ des Menschen. Diese „digitale Innerlichkeit“ aber entspricht laut Flusser nicht nur der inneren Struktur und Funktionsweise des fotografischen Apparats. Innerlichkeit und innere Struktur sind bei Flusser rückgekoppelt und bedingen sich gegenseitig durch einen Feedback-Mechanismus. Boschungs Projekt The Machine View kann als Teil dieses Feedback-Mechanismus verstanden werden. Es lotet nicht nur die Grenzen zwischen Realität und Virtualität aus. Es verschiebt die Grenzen, in dem es die Betrachtung an die Robotik anpasst.

Unverfügbarkeit / Blindheit

Bernd Stiegler erwähnt in seinem Buch Bilder der Photographie. Ein Album photographischer Metaphern den blinden, slowenischen Fotografen Evgen Bavčar. Bavčar, der als Kind durch Unfälle zunächst das linke und ein paar Monate später auch das rechte Auge verlor, ist neben seiner Tätigkeit als Fotograf auch als Autor von Erzählungen bekannt geworden. In seinem Buch Das absolute Sehen denkt er dabei immer auch über die Fotografie nach. Stiegler geht auf Bavčars Reflexionen im Verlauf seiner Ausführungen zur Metapher der Blindheit dann allerdings nicht weiter ein. Wenn er Paul Strands Fotografie Blind Woman bespricht oder auf den russischen Fotografie Alexander Rodtschenko zu sprechen kommt, dann ausschließlich unter Gesichtspunkten der Geschichte der Fotografie, nämlich im „Zusammenhang einer Bewegung, die um 1920 der Tradition anlastet, sie habe die Menschen blind für die Erscheinungen der Welt gemacht.“

Auf Umwegen kommt Peter Geimer in Theorien der Fotografie auf die Figur des blinden Fotografen zurück. Geimer weist bei der Darstellung der Theorien, die das fotografische Bild als Abdruck, Spur und Index begreifen, darauf hin, dass diese die genannten Begriffe zwar nicht in einheitlicher Weise verwenden und auch nicht immer erkennbar ist, wie die Autoren sich den materiellen Akt der Übertragung im Einzelnen vorstellen. Gemeinsam sei jedoch allen Bestimmungen, dass sie zum einen die Besonderheit fotografischer Bilder aus dem Vorgang ihrer Herstellung ableiten und zum anderen voraussetzen, dass dieser Vorgang im Zusammenwirken von Objekt und lichtempfindlichen Material stattfindet und sich damit zumindest zeitweise und partiell der direkten Einflussnahme durch den Fotografen entzieht.

Neben Baudriallard, Bazin und Barthes greift auch Rudolf Arnheim die Motive der „Selbsttätigkeit der fotografischen Apparatur“ und der „Abwesenheit oder Passivität des Fotografen“ auf. Das Besondere an Arnheim ist nun allerdings, dass er diese Motive zum Bild eines Fotografen zuspitzt, der ein Bild auslöst, ohne zu sehen, was im Sucher seiner Kamera erscheint. Jenseits der Frage von Wahrscheinlichkeit oder empirischer Häufigkeit erscheint der „Extremfall“ des blinden Fotografen bei Arnheim als exemplarische Illustration der in der Funktionsweise des Mediums angelegten „Unverfügbarkeit“.

Auch bei Vilém Flusser findet sich die Idee der Nichtverfügbarkeit. Flusser, der im Übrigen die Annahme einer indexikalischen Beziehung zwischen Bild und Objekt als „Täuschung“ verwirft, bezieht diese Nichtverfügbarkeit allerdings nicht auf den Moment, in dem sich das Bild in einem physikalisch-chemischen Vorgang auf einer fotosensiblen Schicht einschreibt, sondern auf den den Apparat, in dem ein Programm als Kombinationsspiel der in ihm enthaltenen Symbole abläuft. Da dieser Apparat als „Black-Box“ funktioniert, ist das Programm dem Zugriff durch den Fotografen entzogen. „Kein richtig programmierter Fotoapparat“, so Flusser, „kann zur Gänze von einem Fotografen, und auch nicht von der Gesamtheit aller Fotografen, durchschaut werden.“

Ein weiterer Unterschied insbesondere zu Arnheim zeigt sich zudem im Ausmaß, das der Unverfügbarkeit von den verschiedenen Autoren zugeschrieben wird. Geimer spricht von einer „partiellen Unverfügbarkeit“ und auch Arnheim geht offensichtlich von einer nur teilweisen Unverfügbarkeit aus, konstatiert er doch, dass die Gewichtung zwischen Apparat und Fotograf von Fall zu Fall variiert und die automatischen Anteilen der Fotografie und die gestalterischen Anteilen des Fotografen sich zudem ergänzen.

Bei Vilém Flusser hingegen ist die Unverfügbarkeit vollständig. Der Fotograf beherrscht als Funktionär des Apparates nämlich nur mehr die Außenseiten dieser Black-Box, wird ansonsten aber vom Apparat beherrscht: „Eben dies ist für alles apparatische Funktionieren charakteristisch: Der Funktionär beherrscht den Apparat dank der Kontrolle seiner Außenseiten (des Input und Output) und wird von ihm beherrscht dank der Undurchsichtigkeit seines Inneren. In der Fotogeste tut der Apparat, was der Fotograf will, und der Fotograf muß wollen, was der Apparat kann.“ Dies gilt laut Flusser übrigens auch für die Wahl des Objekts, die, in einer paradoxen Formulierung, zwar frei, aber „eine Funktion des Programms des Apparats“ ist.

Der Fotograf als Erfüllungsgehilfe des Apparates – in aller Deutlichkeit formuliert Flusser diesen Gedanken, wenn er die Tätigkeit des Knipsers beschreibt. Dessen Fotoalbum zeige nämlich lediglich die „automatisch verwirklichten Apparatmöglichkeiten“ und „wo der Apparat überall war und was er dort getan hat.“

In Flussers pessimistischer Perspektive gelingt es im Widerstreit zwischen dem Apparateprogramm und den Absichten des Fotografen den Programmen denn auch immer besser, „menschliche Absichten auf Apparatefunktionen umzuleiten.“ Lediglich die von Flusser sogenannten „experimentellen Fotografen“ bilden die „Ausnahme“, wenngleich auch sie sich jedoch der vollen „Tragweite ihrer Praxis“ nicht bewusst sind. Zwar wissen sie, „daß sie gegen den Apparat spielen“, sie wissen aber nicht, „daß sie eine Antwort auf die Frage der Freiheit im Apparatkontext überhaupt zu geben versuchen.“

Dass es solche Fotografen und Fotografien gibt, steht für Flusser indes außer Zweifel. „Selbstredend gibt es solche ‚guten‘ Fotografien, in denen der menschliche Geist über das Programm siegt“, konstatiert er in für eine philosophie der fotografie. In seiner Essaysammlung Standpunkte finden sich die konkreten Beispiele.

Literatur und Bildquellen
Evgen Bavčar: Das absolute Sehen
Vilém Flusser: für eine philosophie der fotografie
Vílém Flusser: Standpunkte
Peter Geimer: Theorien der Fotografie
Bernd Stiegler: Bilder der Photographie. Ein Album photographischer Metaphern

Blindheit

Schon bald nach der Erfindung der Fotografie wurde dieser vorgeworfen, sie bilde nur die leichenhafte Oberfläche ab und dringe nicht zum Wesen des Abgebildeten vor. Die piktorialistische Kunstfotografie begegnete diesem Vorwurf bekanntlich mit der Anwendung besonderer Aufnahmeverfahren und Drucktechniken sowie einem Kompositionsverfahren, das sich dezidiert an der Malerei orientierte. Die von den Kritikern bemängelte Darstellungsgenauigkeit sollte so reduziert und der Fotografie der angeblich fehlende Raum für die Einbildungskraft des Betrachters zurückgegeben werden.

Paul Strands Blind Woman, das in 1917 der letzten Ausgabe der berühmten Fotozeitschrift Camera Work erschien, stellt einen Bruch mit der selbstgewählten Blindheit des Piktorialismus dar. Es steht exemplarisch für eine fotografische Praxis und Theorie, die um 1920 insbesondere dem Piktorialismus vorwarf, blind für die Welt der Erscheinungen zu sein. Das neue Sehen, das unter dem Namen Straight Photography bekannt wurde, wollte demgegenüber nicht nur eine neue Perspektive auf die Wirklichkeit eröffnen, es verstand sich vielmehr als „Wirklichkeitserschließung sui generis“ im Geiste der Wissenschaft. Das erklärte ästhetische Ziel war die sachliche, klare Objektivität in der Darstellung. Die „absolute und unbestimmte Objektivität“, so Strand, macht „den wahren Wesensgrund der Fotografie“ aus. Fotografie sei „der einzige bedeutende Beitrag der Wissenschaften zu den Künsten“.

Der Fotograf selbst sollte sich in diesem Prozess zurücknehmen, also unsichtbar werden. Das Fotografieren sollte, so Strand, ein „fotografieren, ohne selber gesehen zu werden“ sein. In Blind Woman ist dieses neue Sehen-ohne-gesehen-zu-werden programmatisch in ein Bild gefasst. Paul Strand, Blind Woman (1916)

Strand greift mit seiner Aufnahme einer blinden Frau, die zu einer der einflussreichsten Fotografien des frühen 20. Jahrhunderts zählt und deren Einfluss über Walker Evans bis zu Luc Delahaye reicht, auf ein Thema zurück, das für die Malerei seit Mitte des 18. Jahrhunderts von großer Bedeutung ist. Der Kunsthistoriker Michael Fried hat in Absorption and Theatricality. Painting and Beholder in the Age of Diderot die Vorliebe der Malerei für dieses Sujet darauf zurückgeführt, dass es in idealer Weise deren antitheatralischen Ausrichtung entgegenkomme, da sich ein blinder Mensch problemlos so darstellen lasse, als sei er sich des Beobachtetwerdens nicht gewahr.

Die Fotografie Strands verdeutlicht in ihrer Programmatik allerdings auch, dass ein Sehen / Fotografieren, ohne gesehen zu werden, letztlich auf einem Schwindel beruht. Und das nicht nur hinsichtlich der Technik, die Strand, Evans oder Delahaye bei Ihren Aufnahmen einsetzten, um die Porträtierten unbeobachtet fotografieren zu können: Strand verwendete für seine Aufnahmen eine Art Winkelobjektiv, Evans verbarg seine Kamera unter seinem Mantel, wobei das Objektiv zwischen zwei Mantelknöpfen herauslugte.

Walker Evans, Blind accordion player (1938)Grundsätzlicher ist der Vorbehalt, den Vilém Flusser in Die Geste des Fotografierens gegenüber einem solchen Vorgehen formuliert. Zwar erweist sich das „komplexe Gewebe aus Aktion und Reaktion“, das sich beim Fotografieren zwischen dem Fotografen und seinem Bildmotiv einstellt, bei näherem Hinsehen als ein „Scheindialog“, da die Rollenverteilung hierarchisch ist: hier der Fotografierte, der auf die Situation mit einer „Mischung aus Befangenheit und Exhibitionismus“ reagiert; dort der Fotografierende mit seiner „seltsamen Empfindung, zugleich Zeuge, Ankläger, Verteidiger und Richter zu sein, einer Empfindung des schlechten Gewissens“. Weshalb der Fotograf auch versucht, „sein Motiv in einem unbewachten Moment zu überraschen, um es in ein Objekt zu verwandeln“, und so sein Motiv letztendlich „erschwindelt“.

Luc Delahaye, L'Autre (1999)Luc Delahaye hat die Aufnahmesituation für die Fotografien von Fahrgästen in der Pariser Métro für sein Buch L’Autre denn auch wie folgt beschrieben: „Ich sitze jemandem gegenüber, um sein Bild zu machen, eine Form von Beweismittel, aber genau wie er starre ich in die Ferne und tue so, als wäre ich nicht da. Ich versuche, wie er zu sein. Das Ganze ist eine einzige Heuchelei, eine notwendige Lüge, die lange genug währt, um ein Bild zu machen.“

Jenseits des bloßen Nicht-gesehen-werden-könnens besteht Flusser zufolge zwischen Fotografierendem und Fotografierten aber eine Situation, aus der keiner der beiden Teile austreten kann und die beide wechselseitig bestimmt und beeinflusst: „Der Fotograf kann nicht anders, als die Situation zu manipulieren, seine bloße Anwesenheit ist eine Manipulation. Und er kann nicht vermeiden, durch die Situation modifiziert zu werden, die bloße Tatsache, sich darin zu befinden, hat ihn verändert.“

Was Flusser kritisiert, ist ein „bestimmter Sinn des Begriffs Objektivität“, der in der Wissenschaft gebräuchlich ist und der auch die Fotografie programmatisch immer wieder bestimmte, der aber an der grundsätzlichen situativen Verklammerung von Betrachter und Betrachtetem, Fotograf und Fotografiertem vorbeigeht. Die „Objektivität der Fotografie“ zeigt sich demgegenüber und paradoxerweise gerade in der Manipulation: „Die Objektivität eines Bildes (einer Idee) kann gar nichts anderes als das Ergebnis der Manipulation (der Beobachtung) irgendeiner Situation sein. Jede Idee ist insofern falsch, als sie das von ihr Erfaßte manipuliert und in diesem Sinn ist sie ‚Kunst‘, das heißt Fiktion.“ Dass es laut Flusser „in einem anderen Sinn wahre Ideen“ gebe, „nämlich dann, wenn sie das von ihnen Betrachtete wirklich erfassen“, wirft allerdings die Frage auf, unter welchen Kriterien denn ein Sachverhalt wirklich erfasst ist.

Leica Glow

Vor hundert Jahren baute Oskar Barnack die erste Leica. Die Kamera ist heute mehr denn je eine Kultmarke und auch das Unternehmen knüpft nach der Übernahme durch einen Investor vor zehn Jahren wieder an die alten wirtschaftlichen Erfolge an.

Sieht man einmal von den Menschen ab, die sich die Kameras und Objektive als Spekulationsobjekte zulegen, bleiben, wie bei vielen anderen Herstellern auch, die vielen Enthusiasten und Ästheten.

Glaubt man den einschlägigen Blogs und Webseiten, so ist es dabei der Leica Glow, der unter ästhetischen Gesichtspunkten das Alleinstellungsmerkmal der Kultkamera ausmacht und Bilder liefert, in denen das Verhältnis zwischen Schärfe und Unschärfe von einer besonderen ästhetischen Qualität ist. Nicht ohne eine sektiererischen Unterton heißt es auf einer einer Flickr-Seite dazu: „Leica Glow is a unique characteristic often found when using Leica lenses. Some people see it. Others do not. It seems most do not. Just like some are color blind, and others are tone deaf, many seem to be unable to see Leica Glow.”

Der Glaube, dass dieser Effekt nur mit Kameras mit Entfernungsmesser oder Leica-Objektiven erzielt werden kann, ist allerdings ein Irrglaube, wie die zahlreichen Anleitungen zu Bildbearbeitungsprogrammen und dazu, wie der Effekt durch den Einsatz geeigneter Softwareroutinen realisiert werden kann, zeigen.

Die Tutorials belegen, was Vilém Flusser in für eine philosophie der fotografie formuliert hat: dass Bilder, egal ob analog oder digital, Erzeugnisse von Apparaten und damit Produkte von wissenschaftlichen Texten sind, die in unterschiedlichen technischen Kontexten ausformuliert werden können. Ob der Glow Effekt dabei im einen Fall durch Kamera-Hardware oder im anderen Fall durch Software erzeugt wird, ist vom Prinzip her unerheblich.

Gespenster

Geister und Gespenster gehen in der Fotografie schon immer um.

Seit der Erfindung der Fotografie ist das Pandämonium der Geisterfotografie stetig gewachsen. Eine Kleine Metaphysik der Photographie versammelt, was aus heutiger Sicht absonderlich erscheint: Aura- und Kirlianphotographien, Elfen- und Feenbilder, Fotografien von Marienerscheinungen und Materialisationen, Geisterfotografien.

Geisterfotografien spielten dabei vor allem im Spiritualismus eine wichtige Rolle. Der Spiritualismus, der Mitte des 19. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten entstand, sah in der Fotografie ein Mittel, den Glauben an das Weiterleben der Seele nach dem Tod mit Hilfe der Fotografie empirisch und wissenschaftlich zu beweisen. Die Fotografie galt als das ideale Instrument spiritualistischer Aussagen und einer empirischen Metaphysik. Bevor sich die Fotografie in einer zweiten Phase der Fotografie des Übersinnlichen mit Baraduc, Darget oder de Rochas den Strahlenaktivitäten der Seele, der Gedanken oder des Körpers zuwandte, entstanden zwischen 1861 und 1877 tausende geister- und mediumistische Fotografien, zumeist Porträts, auf denen Lichtphänomene oder menschliche Gestalten erschienen. Die wohl bekanntesten Geisterfotografien stammen von dem angesehenen britischen Wissenschaftler William Crookes, der 1874 zahlreiche Sitzungen mit dem Medium Florence Cook fotografierte. Erst nachdem sich die Röntgenfotografie in der Medizin durchgesetzt hatte, verschwanden auch die Geisterfotografien allmählich. Es finden sich allerdings noch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts zahlreiche Spielarten, die die Tradition der Geisterfotografien zum Teil bestätigend, zum Teil ironisch aufnehmen.

Das Dispositiv, das diese eigentümliche Verknüpfung von rationaler Wissenschaft und Spiritualismus ermöglicht, ist die Überzeugung, dass sich auf der fotografischen Platte die Natur unmittelbar einschreibt und die Fotografie daher in jedem Fall die Spur von etwas ist. Dass auf einer Fotografie etwas aufgezeichnet worden sei, galt insbesondere im 19. Jahrhundert als unumstößlich. Streit entbrannte allenfalls darüber, wie das fotografisch Abgebildete zu deklarieren sei. Die Anziehungskraft der Fotografie für den Spiritismus verdankt sich mit anderen Worten dem magischen Vermögen, das der Fotografie zugesprochen wurde: dass sie zwischen Gegenstand und Bild eine mediumistische und zugleich naturwissenschaftlich erklärbare Beziehung herstellen kann.

Gespenster geistern aber nicht nur in den Geisterfotografien eines William Crookes, William Mumler oder William Pierce herum. Das Gespenst ist auch eine Denkfigur in vielen Texten zur Theorie der Fotografie. Siegfried Kracauer und Roland Barthes sind nur zwei Autoren, in deren Texte der Begriff des Gespenstes auf je eigene Weise eine wichtige Rolle spielt.