Kracauers Gespenster

Die Fotografie weist Siegfried Kracauer zufolge nicht über den Zeitpunkt ihrer Entstehung hinaus. Beharrlich zeigt sie den stets gleichen Augenblick. Ihr Gedächtnis ist ein Gedächtnis der reinen Gegenwart, die auch im Rückblick stets Gegenwart der Aufnahme bleibt.

Die daraus resultierende Entfremdung führt in Kracauers pessimistischer Bildkritik in letzter Konsequenz zum Verschwinden der Geschichte und der Erinnerung, indem die durch ein sinnstiftendes Gedächtnis getragene Erinnerung durch kontingente, nur mehr „räumliche Konfigurationen“ der fotografischen Abbildung ersetzt wird.

Die „Zeitgebundenheit“ von fotografischen Bildern, ihr Herausgelöstsein aus dem Zeitkontinuum ist aber auch der Grund dafür, dass „Gegenständlichkeit“ im fotografischen Bild stets den Anschein des Kostümierten, Puppenhafte und Gespenstischen trägt.

Dieser aus der Zeit herausgefallenen und in ihre Einzelheiten zerfallenen Fotografie begegnet der Betrachter einerseits mit einem Lachen, wobei die „Komik“ sich aus der Machtlosigkeit des Anspruchs des Kostüms auf Leben im Bild speist: „Auf der Fotografie wird das Kostüm als ein abgeworfener Rest erkannt, der sich fortbehaupten möchte. Es geht in der Summe seiner Einzelheiten auf wie eine Leiche und gebärdet sich groß, als sei Leben in ihm.“

Die eigentlich angemessene Reaktion auf fotografische Bilder ist jedoch das „Grauen“. Denn die Fotografie zeigt nach Kracauer nicht nur das „schlechthin Vergangene“, den „Abfall“. Sie führt dem Betrachter vor allem vor Augen, dass der Mensch, der ihn zuweilen aus einem Bild heraus anblickt, einmal Gegenwart war. Was als komische „Kostümpuppe“ erscheint, „ist ein Mensch gewesen“. Was der Betrachter in der Fotografie erfährt, ist die eigene Vergänglichkeit und die Gewissheit, dass auch er nur ihr Objekt ist: „Denn durch die Ornamentik des Kostüms hindurch meinen sie einen Augenblick der verflossenen Zeit zu erblicken, der Zeit, die ohne Wiederkehr abläuft. Wenn nur die Fotografie ihnen Dauer schenkte, erhielten sie sich also gar nicht über die bloße Zeit hinaus, vielmehr – die Zeit schüfe aus ihnen sich Bilder.“

„Die Zeit schüfe aus ihnen sich Bilder“ – wenn die Dargestellten durch die Zeiten geistern, dann in Gestalt ihrer Fotografien: „Nun geistert das Bild wie die Schloßfrau durch die Gegenwart. Die Fotografie wird zum Gespenst, weil die Kostümpuppe gelebt hat.“

Diesen herumgeisternden Fotografien gegenüber erscheint der Mensch machtlos. Wo Walter Benjamin in der Fotografie eine demokratische, ein Bildgedächtnis ermöglichende Präsentation der Wirklichkeit ausmachte, erscheint in Kracauers Aufsatz die Fotografie und die durch sie verursachte Flut der Bilder als Heimsuchung des Menschen. Die geschichtsphilosophische Pointe, mit der Die Photographie schließt und derzufolge es die „Zeitgebundenheit“ und Geschichtslosigkeit der Fotografie sind, die dem Menschen einen unverstellten Blick auf die Natur eröffnen und ihm vor Augen führen, dass Geschichte und Gesellschaft nur vorläufige Konstrukte sind, wirkt angesichts der vorangegangenen Bildkritik fast etwas befremdlich.

Gespenster

Geister und Gespenster gehen in der Fotografie schon immer um.

Seit der Erfindung der Fotografie ist das Pandämonium der Geisterfotografie stetig gewachsen. Eine Kleine Metaphysik der Photographie versammelt, was aus heutiger Sicht absonderlich erscheint: Aura- und Kirlianphotographien, Elfen- und Feenbilder, Fotografien von Marienerscheinungen und Materialisationen, Geisterfotografien.

Geisterfotografien spielten dabei vor allem im Spiritualismus eine wichtige Rolle. Der Spiritualismus, der Mitte des 19. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten entstand, sah in der Fotografie ein Mittel, den Glauben an das Weiterleben der Seele nach dem Tod mit Hilfe der Fotografie empirisch und wissenschaftlich zu beweisen. Die Fotografie galt als das ideale Instrument spiritualistischer Aussagen und einer empirischen Metaphysik. Bevor sich die Fotografie in einer zweiten Phase der Fotografie des Übersinnlichen mit Baraduc, Darget oder de Rochas den Strahlenaktivitäten der Seele, der Gedanken oder des Körpers zuwandte, entstanden zwischen 1861 und 1877 tausende geister- und mediumistische Fotografien, zumeist Porträts, auf denen Lichtphänomene oder menschliche Gestalten erschienen. Die wohl bekanntesten Geisterfotografien stammen von dem angesehenen britischen Wissenschaftler William Crookes, der 1874 zahlreiche Sitzungen mit dem Medium Florence Cook fotografierte. Erst nachdem sich die Röntgenfotografie in der Medizin durchgesetzt hatte, verschwanden auch die Geisterfotografien allmählich. Es finden sich allerdings noch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts zahlreiche Spielarten, die die Tradition der Geisterfotografien zum Teil bestätigend, zum Teil ironisch aufnehmen.

Das Dispositiv, das diese eigentümliche Verknüpfung von rationaler Wissenschaft und Spiritualismus ermöglicht, ist die Überzeugung, dass sich auf der fotografischen Platte die Natur unmittelbar einschreibt und die Fotografie daher in jedem Fall die Spur von etwas ist. Dass auf einer Fotografie etwas aufgezeichnet worden sei, galt insbesondere im 19. Jahrhundert als unumstößlich. Streit entbrannte allenfalls darüber, wie das fotografisch Abgebildete zu deklarieren sei. Die Anziehungskraft der Fotografie für den Spiritismus verdankt sich mit anderen Worten dem magischen Vermögen, das der Fotografie zugesprochen wurde: dass sie zwischen Gegenstand und Bild eine mediumistische und zugleich naturwissenschaftlich erklärbare Beziehung herstellen kann.

Gespenster geistern aber nicht nur in den Geisterfotografien eines William Crookes, William Mumler oder William Pierce herum. Das Gespenst ist auch eine Denkfigur in vielen Texten zur Theorie der Fotografie. Siegfried Kracauer und Roland Barthes sind nur zwei Autoren, in deren Texte der Begriff des Gespenstes auf je eigene Weise eine wichtige Rolle spielt.