Unverfügbarkeit / Blindheit

Bernd Stiegler erwähnt in seinem Buch Bilder der Photographie. Ein Album photographischer Metaphern den blinden, slowenischen Fotografen Evgen Bavčar. Bavčar, der als Kind durch Unfälle zunächst das linke und ein paar Monate später auch das rechte Auge verlor, ist neben seiner Tätigkeit als Fotograf auch als Autor von Erzählungen bekannt geworden. In seinem Buch Das absolute Sehen denkt er dabei immer auch über die Fotografie nach. Stiegler geht auf Bavčars Reflexionen im Verlauf seiner Ausführungen zur Metapher der Blindheit dann allerdings nicht weiter ein. Wenn er Paul Strands Fotografie Blind Woman bespricht oder auf den russischen Fotografie Alexander Rodtschenko zu sprechen kommt, dann ausschließlich unter Gesichtspunkten der Geschichte der Fotografie, nämlich im „Zusammenhang einer Bewegung, die um 1920 der Tradition anlastet, sie habe die Menschen blind für die Erscheinungen der Welt gemacht.“

Auf Umwegen kommt Peter Geimer in Theorien der Fotografie auf die Figur des blinden Fotografen zurück. Geimer weist bei der Darstellung der Theorien, die das fotografische Bild als Abdruck, Spur und Index begreifen, darauf hin, dass diese die genannten Begriffe zwar nicht in einheitlicher Weise verwenden und auch nicht immer erkennbar ist, wie die Autoren sich den materiellen Akt der Übertragung im Einzelnen vorstellen. Gemeinsam sei jedoch allen Bestimmungen, dass sie zum einen die Besonderheit fotografischer Bilder aus dem Vorgang ihrer Herstellung ableiten und zum anderen voraussetzen, dass dieser Vorgang im Zusammenwirken von Objekt und lichtempfindlichen Material stattfindet und sich damit zumindest zeitweise und partiell der direkten Einflussnahme durch den Fotografen entzieht.

Neben Baudriallard, Bazin und Barthes greift auch Rudolf Arnheim die Motive der „Selbsttätigkeit der fotografischen Apparatur“ und der „Abwesenheit oder Passivität des Fotografen“ auf. Das Besondere an Arnheim ist nun allerdings, dass er diese Motive zum Bild eines Fotografen zuspitzt, der ein Bild auslöst, ohne zu sehen, was im Sucher seiner Kamera erscheint. Jenseits der Frage von Wahrscheinlichkeit oder empirischer Häufigkeit erscheint der „Extremfall“ des blinden Fotografen bei Arnheim als exemplarische Illustration der in der Funktionsweise des Mediums angelegten „Unverfügbarkeit“.

Auch bei Vilém Flusser findet sich die Idee der Nichtverfügbarkeit. Flusser, der im Übrigen die Annahme einer indexikalischen Beziehung zwischen Bild und Objekt als „Täuschung“ verwirft, bezieht diese Nichtverfügbarkeit allerdings nicht auf den Moment, in dem sich das Bild in einem physikalisch-chemischen Vorgang auf einer fotosensiblen Schicht einschreibt, sondern auf den den Apparat, in dem ein Programm als Kombinationsspiel der in ihm enthaltenen Symbole abläuft. Da dieser Apparat als „Black-Box“ funktioniert, ist das Programm dem Zugriff durch den Fotografen entzogen. „Kein richtig programmierter Fotoapparat“, so Flusser, „kann zur Gänze von einem Fotografen, und auch nicht von der Gesamtheit aller Fotografen, durchschaut werden.“

Ein weiterer Unterschied insbesondere zu Arnheim zeigt sich zudem im Ausmaß, das der Unverfügbarkeit von den verschiedenen Autoren zugeschrieben wird. Geimer spricht von einer „partiellen Unverfügbarkeit“ und auch Arnheim geht offensichtlich von einer nur teilweisen Unverfügbarkeit aus, konstatiert er doch, dass die Gewichtung zwischen Apparat und Fotograf von Fall zu Fall variiert und die automatischen Anteilen der Fotografie und die gestalterischen Anteilen des Fotografen sich zudem ergänzen.

Bei Vilém Flusser hingegen ist die Unverfügbarkeit vollständig. Der Fotograf beherrscht als Funktionär des Apparates nämlich nur mehr die Außenseiten dieser Black-Box, wird ansonsten aber vom Apparat beherrscht: „Eben dies ist für alles apparatische Funktionieren charakteristisch: Der Funktionär beherrscht den Apparat dank der Kontrolle seiner Außenseiten (des Input und Output) und wird von ihm beherrscht dank der Undurchsichtigkeit seines Inneren. In der Fotogeste tut der Apparat, was der Fotograf will, und der Fotograf muß wollen, was der Apparat kann.“ Dies gilt laut Flusser übrigens auch für die Wahl des Objekts, die, in einer paradoxen Formulierung, zwar frei, aber „eine Funktion des Programms des Apparats“ ist.

Der Fotograf als Erfüllungsgehilfe des Apparates – in aller Deutlichkeit formuliert Flusser diesen Gedanken, wenn er die Tätigkeit des Knipsers beschreibt. Dessen Fotoalbum zeige nämlich lediglich die „automatisch verwirklichten Apparatmöglichkeiten“ und „wo der Apparat überall war und was er dort getan hat.“

In Flussers pessimistischer Perspektive gelingt es im Widerstreit zwischen dem Apparateprogramm und den Absichten des Fotografen den Programmen denn auch immer besser, „menschliche Absichten auf Apparatefunktionen umzuleiten.“ Lediglich die von Flusser sogenannten „experimentellen Fotografen“ bilden die „Ausnahme“, wenngleich auch sie sich jedoch der vollen „Tragweite ihrer Praxis“ nicht bewusst sind. Zwar wissen sie, „daß sie gegen den Apparat spielen“, sie wissen aber nicht, „daß sie eine Antwort auf die Frage der Freiheit im Apparatkontext überhaupt zu geben versuchen.“

Dass es solche Fotografen und Fotografien gibt, steht für Flusser indes außer Zweifel. „Selbstredend gibt es solche ‚guten‘ Fotografien, in denen der menschliche Geist über das Programm siegt“, konstatiert er in für eine philosophie der fotografie. In seiner Essaysammlung Standpunkte finden sich die konkreten Beispiele.

Literatur und Bildquellen
Evgen Bavčar: Das absolute Sehen
Vilém Flusser: für eine philosophie der fotografie
Vílém Flusser: Standpunkte
Peter Geimer: Theorien der Fotografie
Bernd Stiegler: Bilder der Photographie. Ein Album photographischer Metaphern

Blindheit

Schon bald nach der Erfindung der Fotografie wurde dieser vorgeworfen, sie bilde nur die leichenhafte Oberfläche ab und dringe nicht zum Wesen des Abgebildeten vor. Die piktorialistische Kunstfotografie begegnete diesem Vorwurf bekanntlich mit der Anwendung besonderer Aufnahmeverfahren und Drucktechniken sowie einem Kompositionsverfahren, das sich dezidiert an der Malerei orientierte. Die von den Kritikern bemängelte Darstellungsgenauigkeit sollte so reduziert und der Fotografie der angeblich fehlende Raum für die Einbildungskraft des Betrachters zurückgegeben werden.

Paul Strands Blind Woman, das in 1917 der letzten Ausgabe der berühmten Fotozeitschrift Camera Work erschien, stellt einen Bruch mit der selbstgewählten Blindheit des Piktorialismus dar. Es steht exemplarisch für eine fotografische Praxis und Theorie, die um 1920 insbesondere dem Piktorialismus vorwarf, blind für die Welt der Erscheinungen zu sein. Das neue Sehen, das unter dem Namen Straight Photography bekannt wurde, wollte demgegenüber nicht nur eine neue Perspektive auf die Wirklichkeit eröffnen, es verstand sich vielmehr als „Wirklichkeitserschließung sui generis“ im Geiste der Wissenschaft. Das erklärte ästhetische Ziel war die sachliche, klare Objektivität in der Darstellung. Die „absolute und unbestimmte Objektivität“, so Strand, macht „den wahren Wesensgrund der Fotografie“ aus. Fotografie sei „der einzige bedeutende Beitrag der Wissenschaften zu den Künsten“.

Der Fotograf selbst sollte sich in diesem Prozess zurücknehmen, also unsichtbar werden. Das Fotografieren sollte, so Strand, ein „fotografieren, ohne selber gesehen zu werden“ sein. In Blind Woman ist dieses neue Sehen-ohne-gesehen-zu-werden programmatisch in ein Bild gefasst. Paul Strand, Blind Woman (1916)

Strand greift mit seiner Aufnahme einer blinden Frau, die zu einer der einflussreichsten Fotografien des frühen 20. Jahrhunderts zählt und deren Einfluss über Walker Evans bis zu Luc Delahaye reicht, auf ein Thema zurück, das für die Malerei seit Mitte des 18. Jahrhunderts von großer Bedeutung ist. Der Kunsthistoriker Michael Fried hat in Absorption and Theatricality. Painting and Beholder in the Age of Diderot die Vorliebe der Malerei für dieses Sujet darauf zurückgeführt, dass es in idealer Weise deren antitheatralischen Ausrichtung entgegenkomme, da sich ein blinder Mensch problemlos so darstellen lasse, als sei er sich des Beobachtetwerdens nicht gewahr.

Die Fotografie Strands verdeutlicht in ihrer Programmatik allerdings auch, dass ein Sehen / Fotografieren, ohne gesehen zu werden, letztlich auf einem Schwindel beruht. Und das nicht nur hinsichtlich der Technik, die Strand, Evans oder Delahaye bei Ihren Aufnahmen einsetzten, um die Porträtierten unbeobachtet fotografieren zu können: Strand verwendete für seine Aufnahmen eine Art Winkelobjektiv, Evans verbarg seine Kamera unter seinem Mantel, wobei das Objektiv zwischen zwei Mantelknöpfen herauslugte.

Walker Evans, Blind accordion player (1938)Grundsätzlicher ist der Vorbehalt, den Vilém Flusser in Die Geste des Fotografierens gegenüber einem solchen Vorgehen formuliert. Zwar erweist sich das „komplexe Gewebe aus Aktion und Reaktion“, das sich beim Fotografieren zwischen dem Fotografen und seinem Bildmotiv einstellt, bei näherem Hinsehen als ein „Scheindialog“, da die Rollenverteilung hierarchisch ist: hier der Fotografierte, der auf die Situation mit einer „Mischung aus Befangenheit und Exhibitionismus“ reagiert; dort der Fotografierende mit seiner „seltsamen Empfindung, zugleich Zeuge, Ankläger, Verteidiger und Richter zu sein, einer Empfindung des schlechten Gewissens“. Weshalb der Fotograf auch versucht, „sein Motiv in einem unbewachten Moment zu überraschen, um es in ein Objekt zu verwandeln“, und so sein Motiv letztendlich „erschwindelt“.

Luc Delahaye, L'Autre (1999)Luc Delahaye hat die Aufnahmesituation für die Fotografien von Fahrgästen in der Pariser Métro für sein Buch L’Autre denn auch wie folgt beschrieben: „Ich sitze jemandem gegenüber, um sein Bild zu machen, eine Form von Beweismittel, aber genau wie er starre ich in die Ferne und tue so, als wäre ich nicht da. Ich versuche, wie er zu sein. Das Ganze ist eine einzige Heuchelei, eine notwendige Lüge, die lange genug währt, um ein Bild zu machen.“

Jenseits des bloßen Nicht-gesehen-werden-könnens besteht Flusser zufolge zwischen Fotografierendem und Fotografierten aber eine Situation, aus der keiner der beiden Teile austreten kann und die beide wechselseitig bestimmt und beeinflusst: „Der Fotograf kann nicht anders, als die Situation zu manipulieren, seine bloße Anwesenheit ist eine Manipulation. Und er kann nicht vermeiden, durch die Situation modifiziert zu werden, die bloße Tatsache, sich darin zu befinden, hat ihn verändert.“

Was Flusser kritisiert, ist ein „bestimmter Sinn des Begriffs Objektivität“, der in der Wissenschaft gebräuchlich ist und der auch die Fotografie programmatisch immer wieder bestimmte, der aber an der grundsätzlichen situativen Verklammerung von Betrachter und Betrachtetem, Fotograf und Fotografiertem vorbeigeht. Die „Objektivität der Fotografie“ zeigt sich demgegenüber und paradoxerweise gerade in der Manipulation: „Die Objektivität eines Bildes (einer Idee) kann gar nichts anderes als das Ergebnis der Manipulation (der Beobachtung) irgendeiner Situation sein. Jede Idee ist insofern falsch, als sie das von ihr Erfaßte manipuliert und in diesem Sinn ist sie ‚Kunst‘, das heißt Fiktion.“ Dass es laut Flusser „in einem anderen Sinn wahre Ideen“ gebe, „nämlich dann, wenn sie das von ihnen Betrachtete wirklich erfassen“, wirft allerdings die Frage auf, unter welchen Kriterien denn ein Sachverhalt wirklich erfasst ist.