Raum II – László F. Földényi
Peter Zumthor, Bruder-Klaus-Feldkapelle

Der Raum ist mehr als die Landschaft; er gehört zu den Grundlagen unserer Existenz, und gerade deshalb werden wir nur selten auf ihn aufmerksam. Eine Landschaft versetzt uns meist in Erstaunen, der Raum nur in den seltensten Fällen. Das geschieht dann, wenn ein Teil von ihm künstlich abgespalten wird und den unendlichen Raum – als Gebäude – in eine begehbare und bewohnbare Insel verwandelt. Ein solch konkreter Raumausschnitt macht das Verhältnis des Menschen zum Raum wahrnehmbar. Durch die Erschaffung eines Gebäudes kristallisiert sich ein Stück Raum zu etwas Eigenständigem heraus und macht uns bewusst, wie sehr wir uns im Raum befinden, untrennbar mit ihm verbunden sind. Ein Gebäude wird dann zu einem Erlebnis, wenn der abgespaltene Raumausschnitt in einem das Gefühl erweckt, im Endlichen stehend auch ein Teil des unendlichen Raumes zu sein, wenn man hier und jetzt, in einem sehr begrenzten Raumausschnitt, dem Gebäude also, das Grenzenlose erfahren kann.
László F. Földényi, Lob der Melancholie

Raum I – Georges Perec

Wenn nichts unseren Blick aufhält, trägt unser Blick sehr weit. Doch wenn er auf nichts stößt, sieht er nichts; er sieht nur das, worauf er stößt: der Raum, das ist das, was den Blick aufhält, das, worauf die Augen treffen: das Hindernis: Backsteine, ein Winkel, ein Fluchtpunkt: der Raum, das ist, wenn es einen Winkel bildet, wenn es aufhört, wenn man sich umdrehen muss, damit es wieder weitergeht. Der Raum hat nichts Ektoplasmisches; er hat Ränder, er verläuft nicht in alle Richtungen, er tut alles, was getan werden muss, damit die Eisenbahnschienen sich lange vor der Unendlichkeit begegnen.
Georges Perec, Träume von Räumen

Bryan Schutmaat: Broken Window

Umweltzerstörung, Verfall, Ermattung: Die Werkgruppe „Vessels (ongoing)“ des amerikanischen Fotografen Bryan Schutmaat schildert, wie er selbst sagt, ein Land in Not.

Im Stil der Open-Road-Fotografie, durchaus aber mit allegorischem Charakter, zeigt „Vessles“ die Auswirkungen wirtschaftlicher Enteigung und gesellschaftlicher Verwahrlosung sowie die Folgen des selbstzerstörerischen Raubbaus an der Natur.

Beispielhaft für diesen dokumentarisch-allegorischen Ansatz, der an die düstersten Romane von Cormac Mccarthy erinnert, ist „Broken Window“. In einer schräg von rechts aufgenommenen Scheibe und unter einer Sonne, die durch die zerbrochene Scheibe entstanden ist, spiegeln sich unscharf im Hintergrund ein düsterer, wolkenverhangener Himmel und eine Gebirgskette.

 

Bildquelle
Bryan Schutmaat

Da schwang die Schaukel durch den Schmerz

Ingelheim (2020)Da schwang die Schaukel durch den Schmerz -, doch siehe,
der Schatten wars des Baums, an dem sie hängt.

Ob ich nun vorwärtsschwinge oder fliehe,
vom Schwunge in den Gegenschwung gedrängt,
das alles ist noch nicht einmal der Baum.
Mag ich nun steiler schwingen oder schräger,
ich fühle nur die Schaukel; meinen Träger
gewahr ich kaum.

So laß uns herrlich einen Baum vermuten,
der sich aus Riesenwurzeln aufwärtsstammt,
durch den unendlich Wind und Vögel fluten
und unter dem, in reinen Hirtenamt,
die Hirten sannen und die Herden ruhten.
Und daß durch ihn die starken Sterne blitzen,
macht ihn zur Maske einer ganzen Nacht.
Wer reicht aus ihm bis zu den Göttersitzen,
da uns sein Wesen schon nachdenklich macht?

Rainer Maria Rilke, Die Gedichte 1922 bis 1926

 

 

Anna Di Prospero, Selbstporträt mit meiner Mutter

Der Blick des Betrachters fällt von außen nach innen. Er steht augenscheinlich vor einer Glasscheibe, hinter der, der Bildunterschrift zufolge, die Fotografin und ihre Mutter zu sehen sind.

Die Mutter, links hinter der Tochter, hält dieser, während sie gegen den Himmel blickt, die Augen zu. Diese Geste bleibt indes in der Schwebe. Genauso wenig, wie der gebannte Blick der Mutter verrät, ob das, was vor dem Fenster am Himmel zu sehen ist, etwas Erfreuliches oder Beängstigendes ist, wird entschieden, ob die Tochter versucht, die Hände der Mutter von ihren Augen wegzuziehen, um damit selbst das Geschehen am Himmel sehen zu können, oder ob sie ihrerseits die Hände der Mutter auf ihre Augen presst, um sich vor dem Anblick zu schützen.

So bleiben die Rollen der Mutter und der Tochter in der Schwebe: versagt die Mutter der Tochter die Augen und öffnet sie ihr, wenn sie es will und für richtig hält, oder schützt sie die Tochter, indem sie ihr die Augen zuhält; versucht die Tochter sich dem Zugriff der Mutter auf das, was sie sehen und nicht sehen darf, zu entziehen, oder ist sie folgsam und verzichtet darauf, das zu sehen, was sie nicht sehen soll?

Der Betrachter steht im Angesicht dieses Geschehens buchstäblich außen vor. Gleichwohl ist er durch seine Position nicht gänzlich von dem Geschehen getrennt, das sich hinter der Scheibe abspielt. Auch wenn er sich eigentümlicher nicht in der Glasscheibe spiegelt, die ihn vom Inneren des Hauses und den beiden Frauen trennt, wird ihm durch die Möglichkeit, den Garten, der vor der Glasscheibe liegt, in dessen Spiegelbild zu sehen, eine Position innerhalb des Geschehens zugewiesen. Diese Position wird zuletzt dadurch sogar konspirativ, als auch für ihn in der Spiegelung nicht erkennbar ist, was sich am Himmel abspielt.

Fotografie Forum Frankfurt
Resistance & Sensibility
Collezione Donata Pizzi: Women Photographers From Italy
01.02. – 26.04.2020

Bild und Bildquelle
Anna Di Prospero, Selbstporträt mit meiner Mutter (2011)
https://www.fffrankfurt.org

Benjamin Katz: Berlin Havelhöhe 1960/1961

Ein Mann steht tief im Bild an einer Straßenecke. Er steht im Licht, das zwischen zwei Häusern hindurchscheint. Ein letzes Mal blickt er zurück. Gleich wird er links zwischen den Häusern verschwinden.

„Berlin Havelhöhe 1960/1961“ hieß die Ausstellung, die jüngst im Museum Ludwig in Köln zu sehen war. Das Bild des Mannes an der Straßenecke war eines von 45 Abzügen und insgesamt 318 kleinformatigen Vintageprints, die im Museum Ludwig in einer Sonderausstellung anlässlich des 80. Geburtstage des Fotografen Benjamin Katz gezeigt wurden.

Benjamin Katz, Berlin Havelhöhe 1960/1961 (Quelle: Museum Ludwig)Katz, 1939 in Antwerpen in Belgien geboren, verbrachte 1960/1961 wegen einer Tuberkolseerkrankung anderthalb Jahre im Krankenhaus Havelhöhe im Südwesten von Berlin. In dieser Zeit fotografierte dern den Alltag der Patienenten und Mitarbeiter der Klinik sowie das Gelände und die Gebäude, die im Nationalsozialismus Standort einer Luftkriegsakademie waren. Das Bild des Mannes, der einen letzten Blick zurück wirft, ist exemplarisch für die Fotoreihe „Havelhöhe“, denn Abschied ist das geheime Thema dieser Reihe. Ob es der Mann an der Straßenecke ist, der dem Betrachter einen letzten Blick zuwirft, der junge Mann auf der Treppe, der das Bild gleich nach unten hin zu verlassen scheint, oder Bild des älteren Mannes, der den Betrachter mißtrauisch anblickt: hier werden Menschen gezeigt, die im Verschwinden begriffen sind.

Und dann ist da noch der Mann, der, offensichtlich krank, im Bett eine Zeitung liest und den Betrachter aus dem Bild heraus anschaut: Wie weit ist doch er von der Zuversicht entfernt, die aus der Überschrift spricht, mit der Adenauer in der Zeitung ankündigt: „In 14 Tagen bin ich wieder Kanzler“.

Die Mütze

Ingelheim (2019)

„Aber ich will sagen, das war letzten Sonntag, nicht heute, und ich will sagen, dass ich heute auf dem Weg eine Mütze gefunden habe, und dass ich diese Mütze jetzt, während ich dies aufschreibe, aufhabe, ja ich habe die gefundene Mütze aus verschiedenen Gründen auf … diese graue, dicke, derbe, schmutzige Mütze, ich habe sie schon so lange auf, dass sie schon meinen eigenen Kopfgeruch angenommen hat … Ich habe sie aufgesetzt, weil ich sie nicht mehr habe sehen wollen. Ich habe sie sofort, nachdem ich wieder zu Hause war, in meinem Zimmer verstecken wollen, im Vorhaus verstecken wollen, und zwar aus wahrscheinlich auch in Zukunft völlig unaufgeklärt bleibenden Gründen; im ganzen Haus habe ich sie irgendwo verstecken wollen, aber ich habe keinen für die Mütze geeigneten Platz finden können, also habe ich sie aufgesetzt. Ich habe sie nicht mehr anschauen, aber auch nicht wegwerfen, vernichten können. Und jetzt bin ich schon mehrere Stunden lang im ganzen Haus umhergelaufen mit der Mütze auf dem Kopf, ohne sie anschauen zu müssen.“

Thomas Bernhard, Die Mütze

Portugal

Jede Reise hat einen Anfang und ein Ende. Unsere Reise beginnt und endet in einem kleinen Küstenort, wenige Kilometer nördlich von Porto.

Portugal, Viana do Castelo (2018)Vila Chã: Eher aus praktischen Gründen verbringen wir hier die ersten beiden Tage. Unseren kleinen Camper haben wir am Stadtrand von Porto entgegengenommen und wir wollen nicht gleich weiter fahren. Am zweiten Tag kommen wir in der kleinen Strandbar des Ortes mit einem alten Portugiesen ins Gespräch, der mehrere Jahre in Hamburg gearbeitet hat. Warum wollt Ihr denn überhaupt weiter fahren – dies keine Frage, sondern eher eine Aufforderung hier zu bleiben. Das ist doch nur Arbeit und hier ist der schönste Ort in Portugal. Wir sind etwas amüsiert und fahren am nächsten Morgen weiter.

Über Viana do Castelo und Guimarães geht es in den nächten zwei Wochen in einem Bogen über den Parque Nacional Peneda-Gerês und an Porto vorbei Richtung Süden, Richtung Lissabon. Auf unserer Strecke sehen wir Aveiro, Coimbra, Conimbriga, Peniche, die wunderbaren Strände bei Foz da Arelho, Ericeira und Guincho und Mafra mit seinem Palácio Nacional. Und dann: das alt-ehrwürdig lebendige Lissabon.

Den letzten Abend und die letzte Nacht finden wir uns wieder in Vila Chã, wo wir wir mit Glück das letzte Plätzchen auf dem örtlichen Campingplatz ergattern. Zufall nicht genug, empfiehlt man uns zum Abendessen ein Fischrestaurant am Ort, das Restaurante Caravela. Im Erdgeschoss eine Taverne. Im Fernsehen läuft Fußball. Porto und Chaves werden sich an diesem Abend 1:1 trennen. An den kleinen Tischchen sind sämtliche Stühle in Richtung Fernsehgerät gedreht. Man kennt sich. Hier ist man nicht Gast, sondern Freund unter Freunden. Und direkt gegenüber dem Fernsehgerät ein großformatiges Portrait des Portugiesen, den wir am zweiten Tag keinen Steinwurf entfernt am Strand kennen gelernt haben. Es sind seine Kneipe und sein Restaurant.

Das Essen im Restaurant, das mittlerweile von seiner Tochter geführt wird, es ist fantastisch. Später am Abend, nach einem Stromausfall im Lokal, der die Gäste für Sekunden in der freudigen Erwartung verharren lässt, wie es jetzt wohl weitergeht, und nachdem wir auf einer zusammengefalteten Papiertischdecke eine Nachricht an den Hausherren hinterlassen haben, fragt uns seine Tochter, wo wir ihren Vater denn kennen gelernt haben. Auf unser „Am Strand“ winkt sie verständnisvoll ab, als hätte sie mit keiner anderen Antwort gerechnet: Wo denn sonst, da sitzt er jeden Tag und schaut auf’s Meer. Am schönsten Ort in Portugal.

Mehr Bilder zu Portugal und Portugals Farben hier.