RoboPhot

In seinem Aufsatz Die fotografische Geste identifiziert Vilém Flusser zwei „Grenzfälle“ der komplexen Bewegung eines Apparats und eines diesen Apparat hantierenden Menschen. Am einen Ende der Skala steht die menschliche Bewegung, in der der Apparat still steht und nur der Mensch sich bewegt. Beispielhaft findet sich diese „Normalsituation des Fotografen“ im Fotoatelier des 19ten Jahrhunderts. Am anderen Ende der Skala findet sich die apparatische Bewegung. In ihr gibt es keinen den Apparat hantierenden Menschen mehr. Nach Flusser wird diese „Vollautomation“ im 21ten Jahrhundert „wahrscheinlich die Normalsituation des Fotografierens“ sein.

Der Schweizer Werbe- und Reportagefotograf Daniel Boschung macht in seinem Projekt The Machine View, das auch auf der diesjährigen Ars Electronica zu sehen ist, die Vollautomation zum Programm seiner Fotografie. Im Besonderen ist es die „Gesichtskartografie“, die die apparatische Bewegung veranschaulicht.

In The Machine View nimmt eine Kamera, die auf einem Industrie-Roboter, der üblicherweise in der Automobilindustrie eingesetzt wird und der von einer eigens programmierter Software gesteuert wird, aus nächster Nähe in mehr als 600 Nahaufnahmen ein menschliches Gesicht auf. Die Detailaufnahmen werden mit Hilfe einer speziellen Stitching Software zu einem aus mehr als 900 Millionen Pixel bestehenden Porträt zusammengesetzt. Auf der Webseite zum Projekt kann man in die Gesichter hinein zoomen und von Gesichtspartie zu Gesichtspartie springen.

Erklärtes Ziel des Projektes ist es den Fotografen durch einen Roboter zu ersetzen und so zu einer objektiven Perspektive zu gelangen. Dabei sollen auch die Interaktion zwischen Fotografiertem und Fotografierenden und damit das Posieren des Fotografierten ausgesetzt werden. Boschung will nach eigener Aussage mit seiner Arbeit klären, wie Menschen im 21ten Jahrhundert zu porträtieren sind, damit spätere Zeiten einen Eindruck davon bekommen, welche „Megatrends“ das 21te Jahrhundert ausmachten. Boschung bezieht sich in seinen Selbstinterpratationen dabei allerdings immer noch auf das Modell der Repräsentation: „Meine Porträts bilden die Realität künstlich ab“, sagt Boschung sagt er von seinen Gesichtskartografien. Auf eigentümliche Weise changiert seine Darstellung von The Machine View daher zwischen virtuellem Porträt und des archetypischem Porträt, zwischen Lüge und Wahrheit.

Interessanterweise werden der robotisierten Fotografie die gleichen überraschenden Merkmale und Erfahrungen zugeschrieben wie in ihren Anfangszeiten. Da ist zum einen die Detailgenauigkeit der Gesichtskartografien, die Boschungs betont. Die Kamera erfasse hunderte Bilder von jedem Detail, so Boschung in einem Interview. Und wer vor einem solchen Bild stehe und sich ihm nähere, dem enthüllten sich immer mehr Details, was einen schließlich auch dazu verleite, das Bild für real zu halten. Von der „Genauigkeit und mikroskopische Feinheit“ berichteten auch die Kommentatoren, als sie zum ersten Mal Daguerreotypien zu Gesicht bekamen. Ein Zeitgenosse Daguerres bemerkt: „Das Vergrößerungsglas macht im Gegentheil den unermeßlichen Vorzug dieser von den Strahlen des Tageslichts gestochenen Kupferstiche nur noch einleuchtender; wir entdecken mit jedem Schritt immer neue, immer köstlichere Einzelheiten und unendlich viele Feinheiten und Nüanzierungen, welche dem unbewaffneten Auge in der Wirklichkeit entschlüpfen.“

Aber auch die Voraussetzungen, unter denen die Aufnahmen entstehen, ähneln sich auf überraschende Art und Weise. Walter Benjamin berichtet in Eine kleine Geschichte der Photographie von den Kopfhaltern und Kniebrillen, die in den Anfangszeiten der Fotografie „der langen Expositionsdauer wegen“ als „Stützpunkte“ eingesetzt wurden, um die Porträtierten zu fixieren. Auch Boschung setzt solche Hilfsmittel bei der Aufnahme seiner „Gesichtskartografien“ ein, bei denen der Porträtierte bis zu einer halben Stunde regungslos vor der auf einem Roboterarm montierten Kamera still sitzen muss. Die hochtechnisierte Vollautomation zeigt sich an dieser Stelle ironischerweise technisch genauso unausgereift wie die Fotografie vor 175 Jahren.

Bedingt durch die lange „Expositionsdauer“ gleichen sich die Porträts aus der Frühzeit der Fotografie und die „Gesichtskartografien“ denn auch in einem wesentlichen Merkmal: der Emotionslosigkeit der Gesichter. Auch Boschung betont das Fehlen der Emotionen.Während in den Anfängen der Fotografie die Leblosigkeit der Gesichter ein willkommenes Argument gegen das neue Medium war, ist sie für Boschung kalkuliertes Mittel zum Zweck. Sie erzeugt im Betrachter jenen Konflikt zwischen dem durch den Detailreichtum bedingten Eindruck, dass die Bilder höchst real sind, und dem Eindruck, dass, wie Boschung es formuliert, hier etwas nicht stimmt. Der Echtheit, die durch die bis ins Äußerste getriebene Detailtreue suggeriert wird, steht das Gefühl des Unechten gegenüber. Indem er diesen Wiederspruch der Eindrücke im Betrachter forciert, will Boschung ausloten, wo die Grenze zwischen Realität und Virtualität verläuft.

Vilém Flusser sah in der Fotografie eine Einstellung zur Welt zur Reife gekommen, für die alle Standpunkte gleichwertig und das heißt, im doppelten Wortsinn, auch gleichgültig sind. Fotografieren heißt für Flusser: einen Stanndpunkt suchen, von einen Standpunkt zum anderen springen, wobei das „Springen“ ermöglicht wird durch die „mosaikartige, digitale Innerlichkeit“ des Menschen. Diese „digitale Innerlichkeit“ aber entspricht laut Flusser nicht nur der inneren Struktur und Funktionsweise des fotografischen Apparats. Innerlichkeit und innere Struktur sind bei Flusser rückgekoppelt und bedingen sich gegenseitig durch einen Feedback-Mechanismus. Boschungs Projekt The Machine View kann als Teil dieses Feedback-Mechanismus verstanden werden. Es lotet nicht nur die Grenzen zwischen Realität und Virtualität aus. Es verschiebt die Grenzen, in dem es die Betrachtung an die Robotik anpasst.