Ein letztes Bild

Mit dem Wissen, dass eine Fotografie das letzte Bild ist, das zu Lebzeiten von jemandem gemacht wurde, ändert sich auch der Blick auf die Aufnahme, mag diese auch noch so unspektakulär sein. „Letzte Bilder“, schreibt Peter Geimer in Derrida ist nicht zu Hause, „sind Suchbilder. In ihrem Anblick sucht man selbst noch im durch und durch Kontingenten und Flüchtigen nach Vorzeichen des nahen Endes – als müssten Spuren der kommenden Ereignisse bereits im Vorfeld zu entziffern sein.“

Auch von meinem Bruder gibt es ein solches letztes Bild.
Auf  ihm sitzt er auf einer niedrigen Brunneneinfassung, den Oberkörper leicht zum Brunnenbecken hin gedreht. Er betrachtet seine beiden Söhne, die sich an diesem heißen Spätsommertag im knietiefen Wasser des Brunnes erfrischen und sich im Spiel vorsichtig zu seiner Mitte vorantasten. Fast sieht mein Bruder aus, als versuche er sich das Bild seiner beiden Jungs einzuprägen, die in diesem Augenblick sorgenlos in ihr Spiel vertieft sind.

„Er ist tot und er wird sterben“ hat Roland Barthes als Unterschrift unter das berühmte Bild des auf seinen Tod wartenden Lewis Payne gesetzt und damit die vollende Zukunft beschrieben, die die Zeit jeder Fotografie ist. Auch das Bild meines Bruders besitzt diese Stelle einer zusätzlichen Lesbarkeit, in der, wie Walter Benjamin in der Kleinen Geschichte der Photographie schreibt, „im Sosein jener längstvergangenen Minute das Künftige noch heut und so beredt nistet, daß wir, rückblickend, es entdecken können.“

Letzte Bilder sind in diesem Sinne auratisch: sie verbreiten, in den Worten Benjamins, über ihre eigene Sichtbarkeit hinaus etwas, „was mit Vorstellungen zu bezeichnen wäre“. Ihre Struktur richtet sich vor allem an die Vorstellungskraft.

Die Aura ist mithin ein zusätzlicher Vorstellungswert, der etwas zukommen kann.
Bei der Fotografie meines Bruders ist diese Aura vollständig. Denn das Bild, das ich an jenem Nachmittag von ihm gemacht habe, habe ich verloren. Ich besitze es nur noch als Erinnerungsbild.