In den ersten Wochen des Jahres 1980 bereitete Barthes ein Seminar zum Thema Proust und die Photographie vor. Die wenigen Sitzungen des Seminars, das seiner Vorlesung in diesem Studienjahr folgen sollte, wollte er darauf verwenden, mit einem Diaprojektor Fotografien des Fotografen Paul Nadar vorzuführen.
Ziel des Seminars war es nicht, die Beziehungen Prousts zur Fotografie aufzudecken. Zwar wollte Barthes von biographischen Notizen ausgehen, die er Standardwerken zu Proust entnommen hatte. Das Seminar sollte jedoch, wie er bemerkt, „nur Ausstellung von Materialien, ohne begriffliche Arbeit“ sein. Was Barthes erreichen wollte, war eine „Intoxikation“ der Seminarteilnehmer durch die vorgestellten Bilder. Begleitender Kommentare wollte er sich dabei weitgehend enthalten.
Der Absicht die Teilnehmer unvermittelt zu verzaubern entspricht auch, dass das Seminar, entgegen den üblichen Gepflogenheiten, „keine gemeinsame Beschäftigung“ mit dem vorgestellten Bildmaterial sein sollte. Die Seminarteilnehmer sollten vielmehr in einen eigenen Dialog mit den gezeigten Bildern treten: „Jeder führt einen Dialog in petto mit den Photos.“.
Im Zentrum von Barthes Gedanken über die dem Bild „eigentümliche Wirkung“ steht dabei der Begriff der Faszination. Wenn das Bild nach Barthes „ontologisch“ das ist, „worüber man nichts sagen kann“, dann ist die ihr entsprechende Wirkung die Faszination, da Barthes zufolge fasziniert sein bedeutet, „nichts mehr zu sagen zu haben“. „Die wenigen Worte, die ich dazu sagen werde“, so Barthes, „ zeigen etwas anderes an als das, was ich sage; ich werde nicht dort sprechen, wo es ist; ich spreche beiseite; darin liegt das Eigentümliche der FASZINATION“.
Die vorbereitenden Ausführungen zum Seminar Proust und die Photographie führen mit diesen Bemerkungen fort, was in Barthes Die helle Kammer und auch in früheren Texten zur Fotografie bereits angelegt ist. Wenn Barthes im 21. Abschnitt der Hellen Kammer die Fotografie mit dem Haiku vergleicht, dann deshalb, weil beide ihrem Wesen nach etwas sind, „was nicht entwickelt werden kann“. Wie bei einem Haiku ist auch bei der Fotografie „alles bereits da, ohne daß das Verlangen nach einer rhetorischen Expansion oder auch nur die Möglichkeit einer solchen hervorgerufen würde: weder das HAIKU noch das PHOTO lassen einen ins Schwärmen geraten.“
Bewirkt das Haiku eine Befreiung von Sinn, so ist die Fotografie ihrem Wesen nach ein reines Denotat. Noch einmal: warum dann aber ein Seminar?
Der Abschnitt in der Hellen Kammer, in dem die Ähnlichkeit zwischen Fotografie und Haiku festgestellt wird, schließt noch mit einer emphatischen Selbstvergewisserung, die eine Traditionsbildung nachdrücklich ausschließt: „ich bin ein Wilder, ein Kind – oder ein Verrückter, ich lasse alles Wissen, alle Kultur hinter mir, ich verzichte darauf, einen anderen Blick zu beerben.“ Im Manuskript zu dem geplanten Seminar, ist der Gedanke an eine Weitergabe, wenn nicht von Wissen, so doch von Erfahrung, dann aber durchaus erkennbar. Die Teilnehmer, so Barthes, „sollen sich dem Zauber, dem schleichenden Gift einer Welt ergeben, so wie ich mich von diesen Bildern und Proust sich von ihren Originalen verzaubern ließ.“
Das Seminar, das Barthes in seinem Manuskript entwarf und das als „eine Art praktischer Arbeiten“ konzipiert war, beschreibt damit auch die Utopie, wie von Fotografien, die als reine Denotate von keinem informierten Diskurs, dem studium, erreicht werden können, vermittelbar gehandelt werden kann.
Barthes selbst wollte sich bei der für das Seminar geplanten Präsentation der Bilder so weit wie möglich zurücknehmen: „Ich werde bei dieser Präsentation abwesend sein“, heißt es in diesem Sinne in seinem Manuskript. Das Seminar fand bekanntlich nicht mehr statt. Ende März 1980 starb Barthes an den Folgen eines Verkehrsunfalls.