Um es vorweg zu sagen: man hat bei der Lektüre von Michael Frieds Warum Photographie als Kunst so bedeutend ist wie nie zuvor den Eindruck, dass es Fried in seinem Buch weniger um die Beantwortung dieser Frage geht, als vielmehr darum sich als Fotografietheoretiker hervor zu tun. Die Geschichte und Theorie der Fotografie seit Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts wird nämlich ausschließlich aus der Perspektive seiner eigenen Kunsttheorie und kunstgeschichtlichen Auffassungen erzählt.
Nun ist das an sich ja noch nicht zu beanstanden. Frieds Buch aber ist durchsetzt von Nennungen und Verweisen auf eigene Schriften und Essays und quillt nur so über von einer Selbstgefälligkeit, die zuweilen nur schwer zu ertragen ist. Was nicht bei drei auf den Bäumen ist, das schert Fried samt und sonders über seinen kunsttheoretischen und kunstgeschichtlichen Kamm, der den Gegensatz zwischen Theatralität und Versunkenheit zum künstlerischen und moralischen Grundkonflikt der Moderne erklärt. Und wenn Diderot, Hegel, Heidegger, Wittgenstein, Barthes oder Susan Sontag bemüht oder Äußerungen von Fotografen zu ihren Werken präsentiert werden, dann nur um die Bedeutung seiner eigenen Theorie der Malerei und Fotografie zu untermauern. Das hat nicht nur Züge der Beliebigkeit. Was Fried zur Gänze ausblendet, ist jene nicht zuletzt für die Fotografie zentrale Frage, wie das Wissen um die Situation oder die Anwesenheit des Betrachters die ‚fotografische‘ Situation und die an dieser Situation Beteiligten, also Objekt, Fotograf und Betrachter verändern. Barthes Die helle Kammer oder Flussers Die Geste des Fotografierens sind wohl kaum verständlich, wenn man sie nicht auch als Versuche liest, mit dieser Frage umzugehen.
Überhaupt: Barthes. Um ihn kommt Fried, der ansonsten wenig Kenntnis von zeitgenössischen Autoren der Fotogeschichte und Fototheorie nimmt, nun wirklich nicht herum. Die Bedeutung, die Fried Barthes beimisst, ist schon allein daran zu erkennen, dass er ihm, im Unterschied etwa zu Susan Sontag oder Rosalind Kraus, ein eigenes Kapitel widmet. Auch in Barthes‘ Buch Die helle Kammer, auf das er sich mehr oder weniger beschränkt, macht Fried dann aber als wesentliche Aussage den „Bezug zur zentralen Strömung oder Tradition des antitheatralischen kritischen Denkens und der bildlichen Präsentation“ aus. Barthes habe in seinen Bemerkungen zur Fotografie das „Ansinnen Diderots oder auch aller Kritiker und Theoretiker des 18. und 19. Jahrhunderts“ sogar noch übertroffen, da sein Begriff punctum „eine Art ontologischer Garantie“ impliziere, dass eine Fotografie nicht als antitheatralisch intendiert ist. Fried, der 1967 mit seinem Essay Kunst und Objekthaftigkeit bekannt wurde, sieht sich denn auch zumindest auf gleicher Augenhöhe mit Barthes. Seine Frage, ob es denkbar wäre, „dass die wesentlichen nahezu unbeschreibbaren Eigenschaften, die Barthes und ich in bestimmten Photographien und bestimmten abstrakten Gemälden und Skulpturen jeweils entdeckt zu haben glaubten, letzten Endes dieselben sind“, ist wohl als rhetorische Frage zu verstehen. Was den Unterschied ausmache, das ist, so Fried, dass Barthes seine eigene Argumentation nicht zu Ende gedacht habe. Wie Barthes “die Logik oder Analogie, die Die helle Kammer mit Prousts unsterblichem Meisterwerk verbindet”, entgehe, so entgingen ihm nämlich auch die Konsequenzen der eigenen Argumentation. Wofür Fried auch gleich eine Erklärung hat. Wenn er am Ende des Kapitels Barthes’ punctum über die Möglichkeit räsoniert, Barthes‘ Werk auf den “Stellenwert der Antitheatralität” abzuklopfen, dann heißt es mit unverkennbar süffisantem Unterton: “Angesichts der mehrfachen intellektuellen Kehrtwendungen, die Barthes im Lauf seines Lebens vollzog, sowie in Anbetracht der Tatsache, dass ihm selbst in der Die helle Kammer die Bedeutung wesentlicher Argumente und Unterscheidungen in letzter Konsequenz entgeht, wäre das kein leichtes Unterfangen.”
So beschleicht einen bei der Lektüre alles in allem der Eindruck, dass hier, was nicht passt, passend gemacht wird. Und wenn’s dann doch mal nicht so recht klappern will, dann lässt Fried eine offene Frage auch mal einfach stehen und überlässt das weitere Nachdenken dem geneigten Leser. Aber zum Glück weiß der nach spätestens 100 Seiten ja eh, wie der Hase in der Kunst läuft oder besser: zu laufen hat. Eine Kostprobe: „Ich lasse die Frage offen, inwieweit sich die Trennung der Welten, die ich in den anderen hier erörterten Museumsbildern Thomas Struths entdeckt zu haben glaube, auch in dieser Photographie eindeutig manifestiert.“ Auch das aber ist, wie gesagt, nicht weiter tragisch, da im Prinzip ja eh klar ist, was in allem gemeint ist, auch wenn das natürlich außer Fried so recht noch keiner begriffen hat. Noch einmal Michael Fried: „man kann sogar sagen, dass diese Werke – wie auch diejenigen der anderen in diesem Buch erörterten Photographen – zu einer ernsthaften Rückbesinnung auf antitheatralische Werte und zu einem Wiedererstarken der antitheatralischen Sensibilität führten, und zwar nicht nur bei den eben genannten Kritikern, sondern auch bei einem beträchtlichen Teil der kunstverständigen Öffentlichkeit – auch wenn all dies praktisch noch nicht ins allgemeine Bewusstsein vorgedrungen ist.“
Dem Himmel sei Dank, möchte man ausrufen, das das endlich raus ist! Womit auch Frieds Frage „Warum Photographie als Kunst so bedeutend ist wie nie zuvor“ beantwortet wäre: weil sie ein weitere Beleg für die Gültigkeit seiner eigenen Theorie ist. Man kann es nicht anders sagen: etwas weniger Theatralik in eigener Sache hätte Michael Frieds Buch vermutlich sehr gut getan.
Ach ja, da war doch noch was: die im Frühjahr dieses Jahres im Verlag Schirmer/Mosel erschienene deutsche Ausgabe ist sehr schön aufgemacht und beinhaltet 278 Abbildungen in Farbe und Duotone von allem, was in der zeitgenössischen Fotografie Rang und Namen hat. Das entschädigt dann doch für die eine oder andere Zumutung beim Lesen.
Michael Fried: Warum Photographie als Kunst so bedeutend ist wie nie zuvor. 433 Seiten. Verlag Schirmer / Mosel. Deutsche Erstausgabe, April 2014