Selfie

Der Wunsch, sich selbst zu fotografieren, ist so alt wie die Fotografie. Im Oktober 1839, also schon wenige Monate nach der Erfindung der Daguerreotypie, nahm Robert Cornelius in Philadelphia das erste Selbstporträt auf. Cornelius, der zwischen 1839 und 1843 zwei der ersten Fotostudios in den Vereinigten Staaten betrieb, baute dafür auf der Rückseite des Familiengeschäftes seine Kamera auf. Aufgrund der langen Belichtungszeit der Daguerreotypie brauchte er noch nicht mal einen Spiegel, um das Selbstporträt zu erstellen. Er nahm einfach den Deckel des Objekts ab und huschte anschließend ins Bild.

Robert Cornelius, Selbstporträt (1839)

Das Foto, das im gleißenden Sonnenlicht dieses Tages entstand, zeigt einen jungen Mann mit zerzaustem Haar. Den Kopf leicht nach links gedreht, die Arme vor der Brust verschränkt, blickt er skeptisch in die Kamera. Auf die Rückseite der Daguerreotypie notierte Cornelius selbstbewusst: „The first light Picture ever taken. 1839“ – „Das erste jemals aufgenommene Lichtbild“. Das „Selfie“, das 2013 vom Oxford Dictionary zum Wort des Jahres gekürt wurde, war also immer schon da.

Da Robert Cornelius auch der erste Betrachter seiner Daguerreotypie gewesen sein dürfte, sind in diesem frühen Selbstporträt jene drei Tätigkeiten zusammengefasst, die nach Roland Barthes eine Fotografie ausmachen: operator, spectator und spectrum, also Fotograf, Betrachter und Bildgegenstand. Die Selbstvergewisserung, der das Selbstporträt in diesem Dreiecksspiel dienen soll, wird jedoch verfehlt. Der operator ist im Selbstporträt immer schon imaginär, da er seinen Standpunkt hinter der Kamera notwendigerweise verlassen muss, um spectrum zu werden. Im Falle von Cornelius ist das offensichtlich, da er, nachdem er die Abdeckung von der Kameralinse genommen hatte, vor die Kamera huschen musste, um sich ins Bild zu setzen. Es ist aber ebenso der Fall, wenn das Selbstporträt mit Hilfe eines Spiegels oder eines Selbstauslösers aufgenommen wird. Das spectrum wiederum hat, wie Barthes formulierte, den „unheimlichen Beigeschmack“ des Toten, zeigt die Fotografie doch lediglich das im Bild entäußerte, zum Objekte gewordene Selbst, das aus dem Fluss der Lebenszeit herausgerissen und eingefroren ist.

Und der spectator? Mag Cornelius, der die Aufnahme machte, auch der erste gewesen sein, der sie betrachtete: der spectator ist die Funktion in dieser Dreieckskonstellation, die intentional allen Betrachtern zukommt. Der Blick des Betrachters ist immer schon der eines anderen.

Bildquelle
Wikipedia