Bayards Leichnam

Dass Künstler ihren Bildern Titel geben, ist kunsthistorisch gesehen eine relativ junge Praxis. Ebenso wie die Nennung des Fotografien formuliert auch die Nennung eines Titels dabei einen Anspruch auf Autorschaft und Werkherrschaft, insofern der Titel ein minimaler interpretativer Text ist, der die Deutung von Bild und Fotografie vorzugeben versucht.

Der Titel, den eine Fotografie trägt, ist indes nicht der einzige Paratext, der Fotografien begleitet und bestimmt.

Duane Michals, The Unfortunate Man (1978)Der amerikanische Fotograf Duane Michals etwa hat zahlreiche Fotografien mit handschriftlichen Annotationen versehen, die, wie im Falle von The Unfortunate Man zuweilen wenig Spielraum für Deutungen zulassen. Und Jeff Walls fotografisches Werk wurde unlängst als Bild-Text-Diptychon bezeichnet, das ein ästhetisches und diskursives Management betreibe, bei dem es letztendlich um „die fortgesetzte Sicherung umfassender künstlerischer Werkherrschaft“ gehe, wobei Walls Textproduktion als „wichtigste Strategie der Betrachterlenkung“ fungiere.

Die Urszene der Steuerung der Bildbedeutung durch Text findet sich jedoch bei Hippolyte Bayard, einem Zeitgenossen Louis Daguerres. Bayard, der seit 1837 an der Entwicklung eines fotografischen Direktpositivverfahrens gearbeitet und seine Anstrengungen nach der Bekanntgabe der Erfolge Daguerres 1839 noch forciert hatte, hatte 1839 vergeblich versucht, wie Daguerre auch für seine Erfindung vom französischen Staat eine Leibrente zu erhalten. Im Zusammenhang eines neuerlichen Anlaufs um Unterstützung durch den französischen Staat, entstand 1840 seine Fotografie Selbstportrait als Ertrunkener. Bayards Selbstbildnis, das in die Fotografiegeschichte einging, zeigt einen entkleideten Mann mittleren Altes, der, in sich zusammengesackt und den Kopf seitlich angelehnt, auf einer Bank sitzt. Seine Hände ruhen aufeinander und seine Augen sind geschlossen. An der Wand zu seiner rechten hängt ein großer Strohhut, zur Linken steht eine Vase und neben seinen Füßen eine Statuette.

Hippolyte Bayard, Selbstportrait als Ertrunkener (1840)Was Bayards Fotografie besonders macht, ist aber nicht allein die verglichen mit zeitgenössischen Fotografien eigentümliche Bildanlage. Das eigentlich Besondere dieser Fotografie ist der handschriftlich notierte autografische Nekrolog, der sich auf Rückseite der Fotografie findet und der den umseitig Dargestellten als den Fotografen selbst identifiziert und die Fotografie zugleich als eine scheinbar postmortale ausweist: „Der Leichnam, den sie hier sehen, ist der des Herrn Bayard, des Erfinders des Verfahrens, das man ihnen vorgeführt hat oder dessen wunderbare Ergebnisse Sie noch sehen werden. Soweit mir bekannt ist, beschäftigt sich dieser erfinderische und unermüdliche Forscher seit ungefähr drei Jahren mit der Vervollkommnung seiner Entdeckung. Die Regierung, die Herrn Daguerre mehr als nötig unterstützt hatte, erklärte außerstande zu sein, für Herrn Bayard etwas zu tun, und der Unglückliche hat sich vor Verzweiflung ins Wasser gestürzt. Meine Damen und Herren, gehen wir zu etwas anderem über, damit ihre Geruchsnerven nicht angegriffen werden, denn das Gesicht und die Hände des Herrn beginnen bereits zu verwesen, wie Sie wohl bemerkt haben werden.“

Bayards Einsatz der Fotografie als fiktionales Medium, als fotografisches „Als-ob“, ist dabei gerade deshalb so erstaunlich, weil der fotografische Diskurs sich zu diesem Zeitpunkt noch vorrangig um den Aspekt der Unmittelbarkeit des Mediums im Sinne einer Einschreibung der Natur ohne menschliches Zutun drehte.