Tatort

Die Metapher des Tatorts erscheint in Walter Benjamins Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit an zentraler Stelle.

Als Medium, das gleichermaßen der auratischen und der technisch reproduzierbaren Kunst angehört, markiert die Fotografie nach Benjamin nämlich dadurch den im Kunstwerk-Aufsatz diagnostizierten Übergang vom Kultwert zum Ausstellungswert, dass der Mensch aus den Bildern verschwindet.

Die Bilder des französischen Fotografen Atget zeigen dies nach Benjamin in beispielhafter Weise: „Wo aber der Mensch aus der Photographie sich zurückzieht, da tritt erstmals der Ausstellungswert dem Kultwert überlegen entgegen. Diesem Vorgang seine Stätte gegeben zu haben, ist die unvergleichliche Bedeutung von Atget, der die Pariser Straßen um neunzehnhundert in menschenleeren Aspekten festhielt. Sehr mit Recht hat man von ihm gesagt, daß er sie aufnahm wie einen Tatort. Auch der Tatort ist menschenleer. Seine Aufnahme erfolgt der Indizien wegen.“

Die Fotografien Atgets stellen, indem sie den Übergang in ihrem Gegenstand darstellen,  aber nicht nur „Beweisstücke im historischen Prozess“ dar. Sie fordern, wie Benjamin feststellt, auch eine neue Art von Rezeption: „Sie beunruhigen den Betrachter; er fühlt: zu ihnen muß er einen bestimmten Weg suchen“.

Wie ihre wörtliche Ausprägung, die Tatortfotografie, die sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts als Praxis der kriminologischen Spurensicherung etabliert, verlangt die Fotografie nun generell, dass man sie wie ein Schriftdokument liest und deutet. In diesem Sinn bemerkt Benjamin am Ende seiner Kleinen Geschichte der Photographie, dass auch die Fotografie von der „Literarisierung aller Lebensverhältnisse“ erfasst und wird und er schließt mit der Frage: „Aber muß nicht weniger als ein Analphabet ein Photograph gelten, der seine eigenen Bilder nicht lesen kann? Wird die Beschriftung nicht zum wesentlichen Bestandteil der Aufnahme werden?“