Ein wunderbares Bild

Roland Barthes zeichnet in der Hellen Kammer ein wunderbares Bild von der Fotografie. „Die PHOTOGRAPHIE“, schreibt er, „gehört zu jener Klasse von geschichteten Objekten, von denen man auch nicht zwei Blätter abtrennen kann, ohne sie zu zerstören: die Fensterscheibe und die Landschaft, das GUTE und das BÖSE, der Wunsch und sein Objekt“.

Barthes entwirft damit eine Bildtheorie, in der der Bildträger praktisch unsichtbar ist: Das Licht der Landschaft fällt ungebrochen durch die Fensterscheibe herein in das Auge des Betrachters.

Das Darstellungssystem, das damit verbunden ist, unterscheidet sich wesentlich von anderen Darstellungssystemen. Während zum Beispiel die Malerei eine Realität fingieren kann, ohne sie gesehen zu haben, bedarf die Fotografie notwendig einer realen Sache, „die vor dem Objektiv platziert war und ohne die es keine Photographie gäbe“. Das Eigentümliche des fotografischen Darstellungssystems ist demnach, dass der Signifikant „allemal unsichtbar“ ist, wohingegen der Referent „immer da“ ist. Barthes spricht in diesem Zusammenhang durchaus doppeldeutig auch vom „Eigensinn“ des Referenten: „Was immer auch ein Photo dem Auge zeigt und wie immer es gestaltet sein mag, es ist doch allemal unsichtbar: es ist nicht das Photo, das man sieht, … jedes Photo ist in gewisser Hinsicht die zweite Natur seines Referenten“.

Was aber passiert, wenn die Fensterscheibe bricht?
Das Bild von der Fensterscheibe und der Landschaft verwandelt sich unter der Hand in ein unwirkliches Szenario, das von René Magritte stammen könnte. In seinem Gemälde Le soir qui tombe zerstört er mit der Fensterscheibe den Ausblick, fasst diesen in den Scherben aber nicht mehr als Ganzes zusammen. Zerspringt die Fensterscheibe, dann zerbricht auch die Landschaft.

Fred Stein. Im Augenblick

Im Jüdischen Museum in Berlin eine Ausstellung von Bildern des Fotografen Fred Stein. Interesanter als die Bilder ist die Art und Weise, in der sie präsentiert werden.

Von Allan Sekula stammt die Beobachtung, dass sämtliche Auseinandersetzungen mit der Fotografie sich innerhalb der Bedingungen einer Art binärer Volkskunde abspielen. Fotografische Bilder tendierten in jedem Augenblick ihrer Betrachtung und in jedem beliebigen Kontext entweder zu einem symbolistischen oder einem realistischen Pol.

Die Ausstellung Im Augenblick schreibt diese Auseinandersetzung fort, indem sie in Wandbeschriftungen und Begleittexten die landläufigen Vorstellungen von der Fotografie als Berichterstattung tradiert und die Fotografien Steins damit dem realistischen Pol zuschlägt. Die Beschriftungen und Begleittexte bedienen darin ohne große Distanz auch die Sicht, die Fred Stein auf seine Bilder hatte. Wie in solchen Darstellungen häufig wird aus „Wahrheitsgehalt“ und „Authentizität“ der Bilder dann umstandslos eine ganze „Soziologie der Straße“.

Algorithmen

Gegen Walter Benjamins Einschätzung, dass auch für die Fotografie die „Frage nach dem echten Abzug keinen Sinn“ mehr habe, weil von einer Fotografie eine „Vielheit von Abzügen“ möglich sei, wurde eingewandt, dass der Fotografie, indem ihr im Kunstbetrieb ein Kunststatus zugestanden wird, sehr wohl die Aura des echten und einmaligen Werks von Künstlerhand zugebilligt werden müsse.

Was nach Benjamin für die analoge Fotografie gilt, trifft aber erst recht auf die digitale Fotografie zu: dass in ihr „die Hand von den wichtigsten künstlerischen Obliegenheiten entlastet“ ist. Mehr noch: In ihr bestimmen noch vor Hand und Auge die Algorithmen der digitalen Bildsensoren und der Software, mit denen digitale Bilder automatisch und für die meisten nicht nachvollziehbar verarbeitet werden, Aufnahme und Nachbearbeitung. Noch die Manipulierbarkeit, die, wie verschiedentlich betont wurde, zu einem radikalen Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Fotografie führt, entzieht sich so dem, der das Bild macht.

Retina: Bild, Netzhaut, Display

Bereits die frühen Fotografien wurden mit Netzhäuten verglichen. Nicéphore Nièpce, der Erfinder der Heliografie, von dem die erste bis heute erhaltene Fotografie stammt, spricht beim Versuch, die Bilder zu beschreiben, die er bei seinen Experimenten erhalten hatte, von „rétines“. Diesen Metapherntransfer setzte Kühne, der Entdecker des Sehpurpurs, Ende der 1870er Jahre fort. Für ihn war das Auge nicht mehr nur Fotoapparat, sondern ein ganzes Fotolabor. Die Netzhaut betrachtete er als fotochemische Platte und das Bild, das sich auf ihr entwickelte, als Optographie. In jüngster Zeit schreibt Apple mit dem sogenannten Retina-Display diese Naturalisierung fort.

Wie das Bild bei Nièpce steht dabei vorgeblich auch Apples Retina-Display in nichts der Leistung der menschlichen Netzhaut nach. Laut Apple soll das menschliche Auge nicht in der Lage sein, aus einem typischen Betrachtungsabstand einzelne Pixel zu erkennen.

Hier wie dort ist die Funktion dieser Naturalisierung gleichwohl unübersehbar. Kühne versuchte mit der Photochemie der Netzhaut die fotografische Objektivität des Auges und damit die Theorie der Repräsentation, die seit Descartes und Bacon Wahrnehmung als Projektion begriff, gegen die sogenannte physiologische Optik eines Hermann von Helmholtz zu verteidigen, die sich in dieser Zeit begann durchzusetzen. Für Apple ist die Naturalisierung ein Mittel des Marketings, das im Wettbewerb mit den Konkurrenten eingesetzt wird. Apple geht aber noch einen Schritt weiter. Indem Apple Retina als Markennamen beim United States Patent and Trademark Office registrieren lässt, sichert sich die Firma gleich noch das exklusive Recht auf diese Naturalisierung.

Ein verlorenes Bild

Es ist heiß an diesem Nachmittag.
Mein Bruder sitzt wenige Meter von mir entfernt auf der niedrigen Brunneneinfassung.
Seine beiden Jungs haben sich die Hosen hochgekrempelt und waten vorsichtig im kniehohen Wasser zur Mitte des Brunnens. Mein Bruder, den Oberkörper leicht zu ihnen gedreht, beobachtet sie in Gedanken verloren.
In meiner Erinnerung ist es jetzt sehr still.
Das Bild, das ich an diesem Tag von meinem Bruder gemacht habe und das eines der letzten von ihm ist, ist nicht mehr auffindbar.

Zwitschern Sie mit

In einer Ausstellung von Noa Eshkots Wall Carpets neben einigen Wandteppichen Twitter-Hashtags mit der Aufforderung „Zwitschern Sie mit“.

Rüsselsheim, Opelvillen (2014)

Dazu passt ein Zeitungsartikel, den ich vor ein paar Tagen gelesen habe. „Ich war da“ war er betitelt und er berichtete davon, dass immer mehr Menschen in Museen vor der Kunst posieren und die Bilder, die sie von sich und / vor der Kunst machen, ins Netz stellen. Mit Twitter kann sich das Museum umgekehrt dann auch gleich ein Bild von seinen Besuchern machen. Und unsere Bewegungsprofile liefern wir mit dem „Ich war da“ bereitwillig gleich noch mit dazu.

 

 

Talbot / Struth

Eine Kalotypie von Henry Fox Talbot aus dem Jahr 1843 zeigt den Boulevard des Capucines in Paris. Talbot versieht das Bild mit einer Erläuterung: „Diese Ansicht wurde von einem der oberen Fenster des Hôtel de Douvres aufgenommen, das an der Ecke der Rue de la Paix liegt. Der Betrachter blickt nach Nordosten. Es ist Nachmittag.“

Talbot benennt hier nicht nur den exakten Standpunkt, von dem aus das Bild aufgenommen wurde, sowie die Himmelsrichtung, nach der hin die Aufnahme erfolgte. Auch der Zeitpunkt der Aufnahme wird bezeugt: Es ist Nachmittag. Er verschränkt damit zugleich Bild und Betrachter. Als sei der Nachmittag, den das Bild zeigt, zugleich auch der Nachmittag desjenigen, der das Bild betrachtet; als zeige das Bild keine längst vergangene Straßenszene, sondern etwas, was sich hier und jetzt ereignet. Die Erläuterung formuliert dadurch jenen eigentümlichen Anspruch, aber auch die Spannung, die die Fotografie in ihren Anfängen kennzeichnet: einen vergangenen Ort und eine vergangene Zeit zu konservieren und sie dem Betrachter zugleich als etwas anzutragen, das sich an seine unmittelbare Gegenwart anschließt. Bereits die zeitgenössische Kunstkritik äußerte sich aber kritisch über diesen Anspruch, brachten es doch die langen Belichtungszeiten der ersten Jahre mit sich, dass bewegte Personen und Objekte nicht erfasst werden konnten. In diesem Sinn stellte 1839 ein Kritiker fest, dass die Fotografie nur über den Raum, nicht aber über die Zeit gebiete.

Im Städel Museum in Frankfurt werden in der Ausstellung für Gegenwartskunst zwei Straßenbilder von Thomas Struth ausgestellt. Die Titel der beiden Fotografien von Struth enthalten sich dabei jeglichen Kommentars. Benannt werden lediglich Ort und Jahr, in dem sie entstanden sind. So als ob vermieden werden sollte, dass der Text das Bild belastet, indem er ihm „eine Kultur, eine Moral, eine Phantasie aufbürdet“ (Roland Barthes) oder ihm widerspricht.

Die dargestellte Zeit und der dargestellte Raum sind allerdings nicht mehr ohne weiteres als die des Betrachters erkennbar. Zwar sind die beiden Stadtbilder Struths auf Straßenniveau aufgenommen und legen durch ihren Aufnahmestandpunkt und die strenge Zentralperspektive eine raum-zeitliche Verschränkung von Dargestelltem und Betrachter nahe. Wo Talbot, dessen Kalotypie von einem erhöhten und damit distanzierten Augpunkt aufgenommen wurde, noch eines kommentierenden Textes bedurfte, scheint Struth das Hier und Jetzt der dargestellten Straßenszenen also allein durch die Bildkomposition anzudeuten. Das kennzeichnende Merkmal der beiden Stadtbilder aber ist die Fremdheit, die aus der für Städte vollkommen ungewohnten Menschenleere und Bewegungslosigkeit resultiert. In ihrer Geschichtslosigkeit erinnern Thomas Struths Stadtbilder daher eher an Natur- als an Kulturräume.