Rinko Kawauchi: Utatane

Utatane heißt eine 2001 erschienene Serie von Fotografien der japanischen Fotografin Rinko Kawauchi. Utatane bedeutet so viel wie Sekundenschlaf. Und tatsächlich scheint es so, also inszeniere nicht die Fotografin die Fotografien, sondern als tauchten diese wie Traumbilder aus einem Unbewussten auf.

Gleichwohl gehorcht die Serie einem ebenso subtilen wie strengen Ordnungsprinzip. Die quadratischen Fotografien bilden jeweils Paare, die inhaltlich, formal oder farblich aufeinander Bezug nehmen. Was in den zerbrechlichen High Key-Fotografien Rinko Kawauchis dabei aufscheint, sind die kleinen, zumeist unbeachteten Dinge und Szenen des Alltags. Beiläufig zeigen die schnappschussartigen Fotografien mit ihren schiefen Horizontlinien, Unschärfen und harten Schnitten Menschen in der U-Bahn und auf Straßen, spielende Kinder, tägliche Verrichtungen usw.

Das Gewöhnliche weist allerdings über sich hinaus. Die Fotografien verhandeln zumal in ihren paarweisen Gegenüberstellungen grundlegende Themen: die Zerbrechlichkeit des Lebens, Grundbedürfnisse allen Lebens wie z.B. Durst oder Alter, Sterben und Tod. Der Mensch erscheint in Rinko Kawauchis Fotografien nicht als Wesen, das aus dem Kreis der ihn umgebenden Lebewesen und Dinge hervorgehoben ist, sondern als Teil eines spirituellen Ganzen, das keine Unterschiede kennt.

Georgien

Tiflis

Tiflis ist nicht nur die Hauptstadt Georgiens. Es ist mit knapp 1.3 Millionen Einwohnern mit Abstand auch die größte Stadt Georgiens. Batumi, immerhin die zweitgrößte Stadt Georgiens, hat lediglich 183.000 Einwohner.

Tiflis liegt im Zentrum der Kaukasus-Landenge im östlichen Teil Georgiens. Es erstreckt sich auf etwas mehr als 20 Kilometer entlang des Flusses Mtkwari. Da Tiflis im Westen vom Berg Mtazminda, im Osten von der Hügelkette Machata und im Süden vom Mtabori und dem Gebirgszug Sololaki begrenzt wird und die Stadtbezirke Höhenunterschiede von bis zu 350 Metern haben, ziehen sich viele Wohnviertel in Terrassen die umgebenden Hänge hinauf. Dementsprechend eng geht es auch in der Altstadt von Tiflis zu, die am linken Ufer der Mtkwari liegt und deren enge Straßen und Gassen sich den Sololaki hinaufwinden.

Der Wohlstand von Tiflis verdankte sich seit jeher dem Handel. Im 11. Jahrhundert waren es sieben europäisch-asiatische Handelswege, die durch Tiflis führen. Dieser Wohlstand bescherte Georgien und Tiflis allerdings eine wechselvolle Geschichte. Seine Unabhängigkeit war stets bedroht. Mal waren es Perser, Mongolen oder Osmanen, die Georgien beherrschten, mit Beginn des 19. Jahrhunderts schließlich die Russen.

Die Zugehörigkeit zum russischen Kaiserreich brachte Georgien und Tiflis, das ab 1801 Hauptstadt des Gouvernement Transkaukasien war, aber auch neuen Reichtum. Dieser führte insbesondere nach 1845, als Tiflis zur Residenz des russischen Kaisers ernannt wurde, zu einer intensive Bautätigkeit. Mit der Absicht, Transkaukasien näher an Europa heranzuführen, entstanden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Theater, Hotels, Museen sowie erste Bibliotheken und andere Bildungseinrichtungen in europäischen Architekturstilen, die bis heute das Stadtbild prägen.  Im Zusammenhang mit der Schaffung eines repräsentativen Zentrums wurden auch die Stadtmauern abgerissen, die bis dahin Tiflis umgaben und städtebaulich einschränkten. Der Bau der Transkaukasischen Eisenbahn brachte schließlich weiteren wirtschaftlichen Aufschwung. Ab 1872 rollten die ersten Züge von Tiflis nach Batumi ans Schwarze Meer und in die andere Richtung nach Baku ans Kaspische Meer.

Georgien, Tiflis (08/2024)

Seit den 1990er Jahren sind Architektur und Stadtplanung vor allem in Tiflis von internationalen Strömungen geprägt. Micheil Saakaschwili, der nach der Rosenrevolution von 2004 bis 2013 Staatspräsident Georgiens war, holte internationale Architekten wie Michele de Lucchi, Doriana und Massimiliano Fuksas oder Jürgen Mayer H. nach Georgien. Heute präsentiert sich das neue Tiflis auf engstem Raum links und rechts der Mtkwari mit der Public Service Hall, der Friedensbrücke, dem Präsidentenpalast und der Konzert- und Ausstellungshalle als moderne, weltoffene Stadt. Vom Denkmal der „Mutter Georgiens“, das oberhalb der Altstadt thront und das man mit einer Seilbahn vom Rike-Park jenseits der Altstadt aus bequem erreicht, bietet sich ein schöner Blick über das alte und das neue Tiflis – zumal bei Nacht.

Kritiker bemängeln allerdings, dass vor allem nach 2004 vorrangig der Bau neuer, öffentlicher Gebäude gefördert und zu wenig für den Erhalt der historischen Bausubstanz getan wird, zu der auch Bauwerke aus der Sowjetzeit zählen. Hinzu kommt, dass Georgien auf einem seismisch aktiven Gebiet liegt und immer wieder von Erdbeben heimgesucht wird. Das letzte schwere Beben beschädigte 2002 in Tiflis über 10.000 Gebäude. Und so sieht man in Tiflis auch heute noch eingestürzte Wohnhäuser, bei denen weggebrochene Frontfassaden den Blick freigeben auf Zimmer, an deren Wände noch Bilder der ehemaligen Bewohner hängen oder in denen noch Anrichten mit Geschirr stehen.

 

Ist es auf der Westseite der Mtkwari die Monumentalstatue  Kardlis Deda, die Mutter Georgiens, die, eine Schale Wein für die Freunde in der linken Hand und ein Schwert gegen die Feinde in der rechten, über Tiflis thront, so ist es auf der Ostseite auf dem Elias Hügel die Sameba-Kathedrale. Sie ist Georgiens größter Sakralbau und Symbol der wiedererstarkten georgisch-orthodoxen Kirche. Da ihr Entwurf noch aus Sowjetzeiten stammte, wurde sie nach dem Ende der UdSSR nicht mehr vom Staat finanziert. Als Geldgeber fungierte der georgische Geschäftsmann und Milliardär Bidsina Iwanischwili, der in den ersten Jahren nach der Rosenrevolution noch Micheil Saakaschwili und dessen liberale, proeuropäische Politik unterstützte, von 2012-2013 kurz selbst Regierungschef Georgiens war und zwischenzeitlich den prorussischen Kurs Georgiens befördert.

 

Die U-Bahn von Tiflis

Die Untergrundbahn von Tiflis wurde 1966 eröffnet, als Tiflis noch Hauptstadt der damaligen Sowjetrepublik Georgien war. Sie war nach Moskau, Leningrad und Kiew das vierte U-Bahnsystem, das in der Sowjetunion entstand. Ihre Planung fällt zeitlich zusammen mit der neuen Etappe der georgischen Architektur, dem Modernismus, für den der Verzicht auf traditionellen Architekturschmuck, die Neigung zu einfachen geometrischen Formen, offene Glasfassaden und der breite Einsatz von Eisen und Beton kennzeichnend sind.

Die U-Bahnstrecke von Tiflis wurde mit der U-Bahnstation Rustaweli eröffnet. An dieser Station steigen wir auch zum ersten Mal in eine U-Bahn. Rustaweli ist eine unterirdische Station mit einem oberirdischen Pavillon und befindet sich in der Nähe einer Grünanlage.  Mit 100 Meter Tiefe ist Rustaweli die tiefste Station in Tiflis. Schon die Fahrt mit der durchgehenden Rolltreppe nach unten ist also ein Erlebnis. Eine gute Minute dauert es, bis man endlich den Bahnsteig erreicht, einen dreiteiligen, von Pylonen geteilten Raum, schlicht und schnörkellos.

Und dann kommt sie: die U-Bahn von Tiflis. Sie ist schon etwas in die Tage gekommen und ein bisschen angeschlagen. Wir springen rein und schon geht es mit einem Höllenlärm und Gerumpel los Richtung Altstadt.

Garedscha-Halbwüste und Regenbogen-Berge

Von Sighnaghi im Herzen der Weinanbauregion Kachetien unternehmen wir eine Tagestour zum Kloster Dawit Garedscha. Zunächst geht es mit unserem Fahrer erst einmal wieder Richtung Tiflis, von wo wir vor zwei Tagen mit einem Marschrutka nach Sighnaghi gekommen sind. Etwa auf halber Strecke verlassen wir in Sagaredscho die gut ausgebaute Straße nach Tiflis und fahren auf einer Nebenstraße Richtung Süden. Bald liegen die letzten Häuser von Sagaredscho hinter uns. Auf der Straße ist an diesem Vormittag nicht viel los und bis zum Kloster wird uns nur hin und wieder ein Fahrzeug entgegenkommen. Die schmale Landstraße, auf der wir unterwegs sind, führt – mal schnurgerade, mal mäandernd – durch eine überwältigend schöne, sanft hügelige Halbwüste, vorbei an dem kleinen Mlashe Salzsee. Nur wenige Male passieren wir auf der weiteren Fahrt kleine Ortschaften.

 

Georgien, Garedscha-Halbwüste (09/2024)Unser Fahrer ist augenscheinlich touristenerprobt. Bei der Fahrt hält er von selbst immer wieder an Stellen, an denen sich besonders schöne Ausblicke auf die weite, menschenleere Steppenlandschaft bieten. Wenige Kilometer vor dem Kloster ändert sich dann das Landschaftsbild. Abrupt geht die Halbwüste mit ihren sanften Hügeln über in eine Oberflächengliederung mit markanten, schräg gestellten Schichten aus Sedimentgestein, das an diesem Tag, durch die lockere Wolkenbildung verstärkt, in unterschiedlichen Rottönen leuchtet: die Regenbogen-Berge. Erdgeschichte türmt sich bildhaft vor einem auf.

Nach etwas mehr als zwei Stunden erreichen wir das Kloster Dawit Garedscha. Das georgisch-orthodoxe Kloster, das unmittelbar an der Grenze zu Aserbaidschan am Berg Udabno in den Fels gehauen ist, war über Jahrhunderte eines der wichtigsten spirituellen und kulturellen Zentren Georgiens und ist das älteste Kloster Georgiens. Die erste Besiedlung datiert auf das 6. Jahrhundert. Ab dem 9. Jahrhundert wurde es kontinuierlich ausgebaut und erweitert. Unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg richteten die Sowjets in Dawit Garedscha einen Truppenübungsplatz ein und das Kloster blieb bis zum Ende der Sowjetunion geschlossen. Nachdem es 1990 aber erneut zum Kloster geweiht wurde, lebt heute wieder eine kleine Klostergemeinschaft in der Anlage, von der wir bei unserem Besuch aber nichts bemerken. Die Rückfahrt ist dann ein einziges waghalsiges Überholmanöver. Unser Fahrer holt das Letzte aus seinem doch schon etwas älteren Mercedes heraus, da er sich offensichtlich vorgenommen hat, zeitig wieder zurück in Sighnaghi zu sein.

Von Kutaissi nach Mestia

Morgens um 7:45 Uhr im Hotel noch ein schnelles Frühstück. Dann geht es auch schon zum zentralen Busbahnhof von Kutaissi. Es erweist sich auch heute als eine gute Entscheidung, eine gute halbe Stunde vor Abfahrt des Marshrutka am Busbahnhof zu sein. Wir ergattern dadurch zwei der letzten vier Plätze im Kleinbus nach Mestia.

Es gibt von Kutaissi aus keine direkte Verbindung nach Mestia. So geht es in der vollbesetzten Marshrutka in einem großen westlichen Bogen zunächst Richtung Senaki und Chobi und über Tsaishi und Sugdidi dann nach Norden. Ab Dschwari verläuft die Straße bis wenige Kilometer vor Mestia parallel zum Flus Enguri. Kurz hinter Dschwari ist der Enguri zu einem Stausee aufgestaut. Noch ist die Straße gut ausgebaut. Ab Dizi aber wird sie eng und ruppig. Alle paar Kilometer passiert man zudem Straßenbauarbeiten. Am Vormittag ist die Straße zum Glück noch wenig befahren und so kommen uns nur wenige PKW und LKW entgegen. Die Straße führt kontinuierlich auf und ab. Mal fährt man auf Höhe des Enguri, mal liegt der Enguri 100 bis 200 Meter unterhalb der Straße in seinem engen Tal. Auf halber Strecke zwischen Khaishi und Dizi erhaschen wir das erste Mal einen Blick auf die schneebedeckten Gipfel des Großen Kaukasus.

Nach gut fünf Stunden Fahrt erreichen wir, gut durchgerüttelt, endlich Mestia, das auf 1.500 Meter Höhe liegt. Erstaunlich, dass einige der Mitreisenden die Fahrt über weite Strecken geschlafen haben, ja überhaupt schlafen konnten. Unser Guest House ist schnell gefunden, so dass wir am Nachmittag noch genügend Zeit haben, um mit der Seilbahn von der Talstation in Mestia über zwei Etappen bis auf knapp 2.400 Meter zu fahren. Von hier aus hat man einen grandiosen Blick auf den Ushba, einen Doppelgipfel im Hauptkamm des Großen Kaukasus, dessen Nordgipfel 4737 Meter hoch ist. Auf der anderen Seite des Ushba liegt schon Russland.

 

Batumi

Batumi boomt. Wo man auch hinschaut: es wird wie verrückt gebaut. Glücksspiel und Badetourismus sind die Wirtschaftsfaktoren, welche die Stadtentwicklung in den letzten 10 Jahren geprägt haben und die Batumi nicht nur neue Hotels, Appartementhäuser und Kasinos beschert, sondern auch zu einer rasanten Bevölkerungsentwicklung geführt haben.

 

Trotz der Kasinos und der Strände sollte man aber nicht vergessen, dass Batumi auch Georgiens Haupthafen ist. Das Erdöl war um 1900 die Grundlage für die Entwicklung Batumis. Es wurde im Kaspischen Meer bei Baku in Aserbaidschan gefördert, über die Transkaukasische Eisenbahn und die weltweit erste kontinentale Ölpipeline (1904 in Betrieb genommen) zum Schwarzen Meer transportiert und im Hafen von Batumi verschifft. In den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts kam dann mit dem Tourismus ein weiteres wirtschaftliches Standbein dazu, wobei mit der Tauwetterperiode in den Ostblockstaaten der Ausbau Batumis entsprechend den Bedürfnissen des beginnenden Massentourismus startete. Diese Entwicklung kam mit der Auflösung der Sowjetunion 1991 allerdings praktisch zum Erliegen. Nach Jahren der Stagnation hält aber seit Mitte des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts der allmähliche Aufschwung Batumis mit Auf und Ab bis heute an.

Jetzt, Anfang September, hat die Nachsaison bereits begonnen. Der Strandabschnitt, der dem Hafen zugewandt und an dem Baden eigentlich verboten ist, wie auch der mehrere Kilometer lange Strand am Batumi Boulevard sind nur mäßig besucht. Am Hafenkai angeln eine paar Georgier.

 

Geht man auf dem Batumi Boulevard Richtung Süden, stößt man bald auf Fahrgeschäfte, die aussehen, als hätten sie den Betrieb nicht nur für diese Badesaison eingestellt. Eine eigentümliche Stimmung geht von ihnen aus. Sie wirken wie aus der Zeit gefallen.

 

Hunde

Streunende Hunde sind aus dem Straßenbild der meisten Städte Georgiens nicht wegzudenken. Sie begleiten einen buchstäblich überall. Wurden sie in den 90er Jahren noch schrecklich behandelt und zum Teil auf der Straße getötet, werden sie heute durch gut funktionierende Netzwerke und Anwohner versorgt. So kommt es auch schon mal vor, dass ein kleines Hotel sich um zwei, drei der Streuner kümmert. Um ihre Zahl in Grenzen zu halten, werden die Hunde durch die Kommunen kastriert und gechipt. Allein in Tiflis gibt es nach aktuellen Angaben gleichwohl mehrere zehntausend herrenlose  Hunde. Angst braucht man vor ihnen aber nicht zu haben. Sie sind überraschend ruhig und zutraulich und verbringen zumal die heißen Tage schlafend an schattigen Plätzen.

 

Autos

Schwer zu sagen, ob die Georgier autoverrückter als die Deutschen sind. Statistisch gesehen kamen 2023 in Deutschland auf 1000 Einwohner 588 PKW, in Georgien immerhin auf 1000 Einwohner 415 PKW. Und wie in Deutschland geben auch in Georgien eine Menge Menschen augenscheinlich viel Geld für neue Autos aus.

Was Deutschland und Georgien aber auf jeden Fall unterscheidet, ist die Fahrkultur. Auf Georgiens Straßen wird auf Teufel komm raus überholt, egal ob vor einer Kurve, einer Kuppe oder bei Gegenverkehr. Wenn’s mal eng wird, drängt man sich einfach wieder rein. Was auf den Sraßen unterwegs ist, reicht dabei von ganz neu bis zu deutlich in die Jahre gekommen. Viele Fahrzeuge werden gebraucht aus Europa oder Japan importiert werden. Und so sieht man recht häufig Fahrzeuge, die ausländische Werbeaufschriften tragen oder die das Lenkrad auf der rechten Seite haben. Was irgendwann wirklich nicht mehr fahrtüchtig ist, wird dann bis auf das letzte Teil verwertet. Entlang mancher Straßen stehen auf beiden Seiten über Kilometer mehr oder weniger ausgeschlachtete Autos, von denen zum Teil nur noch das  Karosseriegerippe übrig ist.

 

Alte, ausgediente Verkehrsmittel bekommt man überraschenderweise aber auch auf dem Gelände des Flughafens von Tiflis zu sehen. Das Vorfeld ist nämlich übersät mit abgestelltem altem Fluggerät aus sowjetischer und westlicher Produktion. Und so kann man zwischen neuem und altem Terminal unter anderem einen Blick auf eine viermotorige Iljuschin Il-18, eine Antonov An-24 oder eine zweistrahlige DC-9 werfen. Sogar einige Helikopter aus sowjetischer Herstellung stehen herum.

Blick in die Zeit: Alter und Altern im photographischen Porträt

„Blick in die Zeit – Alter und Altern im photographischen Porträt“ versammelt über 170 photographische Werke von 18 internationalen Photographinnen und Photographen zu einer vielgestaltigen Darstellung des Alters und des Alterns. Zu sehen sind klassische Positionen von August Sander oder Imogen Cunningham, aber auch zeitgenössische Fotografie wie beispielsweise Serien von Natalya Reznik oder Jess T. Dugan.

Was die körperlichen Spuren des Alters für die weiblichen Rollenbilder bedeuten, reflektiert eine großformatige Arbeit Cindy Shermans. John Coplan dagegen wirft in seinen Photographien einen durchaus ironischen Blick auf sich selbst und seinen alternden Körper. Veränderungen in familiären Zusammenhängen im Laufe der Zeit wiederum werden thematisiert in Langzeitprojekten von Andreas Mader, Christian Borchert, Larry Sultan und Deanna Dikeman.

Berührend vor allem die Serie „Leaving and waving“ von Deanna Dikeman. 27 Jahre lang machte Deakan Fotos, wenn sie sich von ihren Eltern vor deren Haus in Sioux City, Iowa verabschiedete und wegfuhr: „Ich begann 1991 mit einem schnellen Schnappschuss und fotografierte bei jeder Abreise weiter. Ich hatte nie vor, diese Serie zu machen. Ich habe diese Fotos einfach gemacht, um mit der Traurigkeit des Abschieds umzugehen. Das wurde allmählich zu unserem Abschiedsritual. Und es erschien mir ganz natürlich, die Kamera zu benutzen, denn ich hatte während meines Aufenthalts jeden Tag Fotos gemacht. 2009 habe ich ein Foto gemacht, auf dem mein Vater nicht mehr zu sehen ist. Er starb wenige Tage nach seinem 91. Geburtstag. Meine Mutter winkte mir weiterhin zum Abschied zu. Ihr Gesicht wurde mit meinen Abschieden immer verzweifelter. Im Jahr 2017 musste meine Mutter in ein betreutes Wohnen umziehen. Ein paar Monate lang fotografierte ich die Verabschiedungen von ihrer Wohnungstür aus. Im Oktober 2017 ist sie gestorben. Als ich nach ihrer Beerdigung ging, machte ich noch ein Foto von der leeren Einfahrt. Zum ersten Mal in meinem Leben winkte mir niemand zurück.“

 

„Blick in die Zeit – Alter und Altern im photographischen Porträt“: noch bis zum 7. Juli 2024 in der SK Stiftung Kultur, Köln.

Bildquelle: Deanna Dikeman – Leaving and Waving

Frida Kahlo: Ihre Fotografien


„Dem normalen, unprätentiösen Betrachter wird die Sammlung neuen Anlass zur Identifikation mit Frida und Diego bieten. Und das breite Publikum wird vielleicht besser verstehen, warum ihm die Malerei dieser Künstler so viel sagt und warum es vor ihren Werken Überraschung und Bewunderung empfindet. Vor allem wird es zu seiner Freude feststellen, dass die beiden Künstler wie jeder von uns ein Fotoalbum mit Bildern ihrer Eltern, Geschwister, Cousins und Freunde besaßen, aufgenommen in Posen, Situationen und bei Tätigkeiten, die sich kaum von denen unterscheiden, die wir alle kennen. Vielleicht wird es entdecken, dass das, was auf ihren Gemälden zu sehen ist, eine wunderbare Kombination aus Vorstellungskraft und der sie umgebenden Wirklichkeit ist. Aus dieser glücklichen Mischung, befruchtet von Fridas und Diegos Talent und Sensibilität, entstanden geniale und unvergessliche Kunstwerke, die nicht nur das Leben derer, die sie geschaffen haben, abbilden und ihm Identität verleihen, sondern auch dem vieler Männer und Frauen aus anderen Zeiten und Regionen der Welt.“
Gerardo Estrada, Fridas und Diegos Welt in ihren Fotos
In: Frida Kahlo. Ihre Fotografien – Prestel

„Letzten Endes wird keine dieser Fotografien einen echten Wandel in der Kahlo-Forschung bewirken: Selbst die Bilder der identifizierten Personen sind letztlich Bruchstücke von Klatsch, festgehalten in Silber auf Gelatine, so daneben und subjektiv wie jedes Geflüster, eher Geschwätz denn Zeugnisse. Dieses Material durchzugehen erschöpft mehr als dass es erregt, es ist eher verwirrend als informativ. Ändert es die Art, wie wir uns Frida Kahlo vorstellen oder enthüllt es uns wenigstens ein paar pikante (und nicht so pikante) Details? Lenkt es uns einmal mehr von ihrer Kunst ab oder ist ihre Kunst wirklich so untrennbar mit jener Selbsterfindung verbunden, die eine Schar internationaler Persönlichkeiten angestiftet und in Gang gehalten hat, und die ihren bildhaften Ausdruck ebenso in den Fotografien (und Texten) wie in ihrer Malerei fand? Letzteres trifft, glaube ich, beides zu, auch wenn ich fürchte, in gewisser Weise selbst der Versuchung erlegen zu sein, die wir alle spüren, unsere Nase in das Privatleben anderer zu stecken.“
James Oles, Klatsch in Silber und Gelatine
In: Frida Kahlo. Ihre Fotografien – Prestel

 

Frida Kahlo: Ihre Fotografien
Opelvillen Rüsselsheim
5. November 2023 – 4. Februar 2024

Jean-Michel Landon: La vie des blocs

Das Leben in den Vororten von Paris: Über zehn Jahre hat der französische Fotograf Jean-Michel Landon dieses Leben dokumentiert. Herausgekommen ist eine Hommage an die Bewohner*innen der Pariser Vorstädte, die im Zuge weitreichender Stadterneuerungsprojekte zwar ein modernes Gesicht bekommen, in denen Probleme wie soziale Segregation und Verdrängung durch Gentrifizierung aber nach wie vor bestehen und sich weiter verschärfen. In Mannheim im ZEPHYR sind erstmals außerhalb Frankreichs 130 Fotografien des französischen Fotografen Jean-Michel Landons zu sehen. Sie zeigen vor allem auch: Momente der Unbeschwertheit, der Freundschaft und des solidarischen Zusammenlebens in den von Arbeitslosigkeit, Aussichtslosigkeit und Gewalt beherrschten Banlieues.

ZEPHYR – Raum für Fotografie | Mannheim

Landon Jean-Michel – Photograph humaniste et social: Linstable photographie

 

England: Schwerer Nebel über dem Kanal, Kontinent abgeschnitten

Bridport

 

Hive Beach

 

Lime Regis

 

London

 

North Littleton

 

Evesham

 

Chipping Campden

 

Stratford-upon-Aven

 

Hastings

 

Dover

 

Verschiedene Orte

 

 

Thomas Bernhard kauft sich ein Auto und fährt bis nach Retz

„Und die Wahrheit ist, daß ich nur im Auto sitzend zwischen dem einen Ort, den ich gerade verlassen habe und dem andern, auf den ich zufahre, glücklich bin, nur im Auto und auf der Fahrt bin ich glücklich, ich bin der unglücklichste Ankommende, den man sich vorstellen kann, gleich, wo ich ankomme, komme ich an, bin ich unglücklich. Ich gehöre zu den Menschen, die im Grunde keinen Ort auf der Welt aushalten und die nur glücklich sind zwischen den Orten, von denen auf der Welt und auf die sie zufahren. Ich bin der glücklichste Reisende, sich Bewegende, Fahrende Fortfahrende, ich bin der allerunglückliste Ankommende.“
Thomas Bernhard, Wittgensteins Neffe

Der Autofahrer Thomas Bernhard

Thomas Bernhard bezeichnete sich wiederholt als ein „leidenschaftlicher Fahrer“ und als ein vom „Geist des Motorischen Beseelter“. Karl Ignaz Hennetmair berichtet in seinem versiegelten Tagebuch „Ein Jahr mit Thomas Bernhard“ aus dem Jahr 1972 über ihn, er sei geradezu „radikal“ und von einer manischen Pedanterie bei der Pflege seiner Autos gewesen. Penibel habe er Service-Intervalle bei seinen Fahrzeugen eingehalten und Werkstätten mussten bei Reparaturaufträgen öfter mit unangekündigten Kontrollbesuchen rechnen.

Überhaupt: Was hat Thomas Bernhard nicht alles an Fahrzeugen besessen, gefahren und geliebt. Vom Preisgeld der ersten Auszeichnung „für eine schriftstellerische Arbeit“, dem Julius-Campe-Preis für den Roman „Frost“, kaufte er sich 1964 aus dem Schaufenster eines „der elegantesten Autohäuser von Wien“ heraus das „erste Auto“ in seinem Leben: einen Triumph Herald Roadster. Einen „Luxuswagen“, wie er in „Meine Preise“ ausdrücklich betont“, „elegant“, „englisch“, „weiß, mit roten Ledersitzen und einem hölzernen Armaturenbrett.“ In den späten 60ern und frühen 70ern dann war es ein „knallgelber“ VW Käfer, über den Elfriede Jelinek bei einem Besuch Bernhards anmerkt, er sei „ein Fremdkörper in der Umgebung“ gewesen, der „gleich ins Auge sticht“. Es folgte ein VW 1600 Variant, der im auf der ewigen Baustelle seines Hauses in Obernahtal über viele Jahre als Arbeiter- und Materialtransporter diente. Ende der siebziger Jahre dann kaufte er sich ein „richtiges Kapitalisten-Auto“, einen Mercedes Benz W 123, der es 2008 sogar bis in eine Ausstellung des Technischen Museums Wien geschafft hat und dem nachgesagt wird, er sei „tannengrün bis in die Radkappen“ gewesen. Und schließlich das letzte Auto: ein Suzuki Samurai, das sich Bernhard 1988 elf Monate vor seinem Tod zulegte und das ihm „das liebste“ war. Es sollte ihn, der zu diesem Zeitpunkt schwer von seiner Lungenkrankheit gezeichnet war, dort hinbringen, wo er zu Fuß nicht mehr hinkam. Mit seinem Suzuki, so sein Bruder Peter Fabjan, sei er „besonders gern unterwegs gewesen“. Und mit dem Suzuki habe er auch seine letzte Ausfahrt gemacht.

Bei alledem darf selbstverständlich auch Bernhards Traktor nicht vergessen werden, ein McCormick-Traktor B 414, an dem er eine Plakette hatte anbringen lassen, auf der er sich, für alle sichtbar, auswies als „Thomas Bernhard vlg. Bauer zu Nahtal“ und mit dem er manchmal durch das Aurachtal fuhr, um Möbel zu einem seiner Häuser, der „Krucka“, zu transportieren.

Und ja: fehlen darf auch nicht das Steyr-Waffenrad seines Vormundes, auf dem er „die größte Entdeckung“ seines damals noch jungen Lebens gemacht habe: „ich hatte meiner Existenz eine neue Wendung gegeben, möglicherweise die entscheidende der mechanischen Fortbewegung auf Rädern.“

Auto und Autounfall

Wenn Thomas Bernhard von Autos und vom Autofahren erzählt, dann ist der Unfall indes nicht weit. Matthias Bickenbach arbeitet in seiner fragmentarischen Kulturgeschichte des Autounfalls heraus, dass sich im Unfall jenseits des Traumas vom Verlust der Selbstbestimmung im Verlust über die Kontrolle zeigt, dass der Unfall der Fall der Geschwindigkeit selbst ist: „Der traumatische Verlust der Kontrolle, der so oft in Unfallnachrichten benannt wird, korrespondiert dem Risiko, das die Geschwindigkeitsmaschine selbst hervorbringt.“

Dass sich in Thomas Bernards Lebenserzählungen und seiner Prosa permanent Unfälle ereignen, kommt so gesehen nicht von ungefähr. Der „Schiffbruch der Geschwindigkeit“, der sich im Unfall mit Bewegungsmittelen aller Art zeigt, macht den Unfall zum idealen Sinnbild einer Auffassung vom Leben, das nichts Anderes als Scheitern sein kann. Wer von Auto und Fahrzeugen spricht, muss also auch vom Unfall sprechen. Es gilt aber auch: Wer vom Leben spricht, muss auch vom Unfall sprechen.

Unfallgeschichten

Unfallgeschichten ziehen sich durch Bernhards Leben und Schreiben. Peter Fabjan, der Halbbruder Thomas Bernhards, berichtet in einem kurzen Text, der den Titel „Der Dichter und das Auto“ trägt, von einem Unfall, den Bernhard Anfang der achtziger Jahre hat. Bernhard jagt mit Tempo 160 über eine Autobahn: „Plötzlich hat’s einen Knall gegeben, die Windschutzscheibe ist zersplittert. Erst als er am Pannenstreifen war, hat der Thomas bemerkt, dass alles voller Blut war. Voller Blut und Splitter. Auch der Dachhimmel, die Sitze, alles voll. Als er sich dann umgedreht hat, hat er ihn gesehen, den Fasan, der da durch die Scheibe geschossen ist. Völlig zerfetzt. Auf der Hutablage. Glück hat er gehabt, der Thomas, der Vogel ist nur knapp an seinem Kopf vorbeigeschossen.“

Thomas Bernhard hat diesen Unfall in seiner ihm eigenen Art kleingeredet. Gegenüber Joachim Unseld kommentierte er den Unfall lakonisch: „Das hätte buchstäblich, wie man sagt, ins Auge gehen können“. Und, so fügt er an anderer Stelle hinzu, die Fananenhenne habe kurz vor dem Ableben sogar noch ein Ei gelegt.

Tatsächlich und buchstäblich ins Auge geht ein solcher Autounfall dann in Bernhards Roman „Auslöschung. Ein Zerfall“. Bei dem Unfall, bei dem die Eltern und der Bruder des fiktiven Erzählers Franz-Josef Muraus tödlich verunglücken, durchstößt eine Traverse auf dem LKW, auf den der Vater mit hoher Geschwindigkeit auffährt, die Frontscheibe des elterlichen Jaguar und trennt den Kopf der Mutter vom Rumpf ab. Die groteske Szene macht unzweifelhaft die „Gewalt der Geschwindigkeit“ bewusst, die laut Bickenbach in der automobilen Gesellschaft verdrängt ist und die dem Traum der Autonomie immer schon entgegenarbeitet. In Bernhards letztem großen Prosawerk geht es im Trauma des Unfalls aber nicht um die Dekonstruktion von Selbstbestimmung und Autonomie. Verhandelt wird am Unfallgeschehen, das nur mehr im fotografischen Bild verfügbar ist, das Verhältnis von Abbild und Vorbild, von Zeichen und Bezeichnetem, Referent und Signifikant. Dieses Verhältnis ist eines der Beziehungslosigkeit. Was dem fiktiven Erzähler bleibt, das ist das in Zeitungen massenhaft verbreitete Bild der kopflosen Mutter, dessen Wahrheitsgehalt er aber nicht überprüfen kann, weil er den bereits verschlossenen Sarg der Mutter trotz mehrfacher Versuche nicht öffnen kann.

Eine gänzlich andere Wendung nimmt das Unfallgeschehen in Thomas Bernhards autobiographischer Erzählung „Ein Kind“ aus dem Jahr 1982. In dieser Erzählung berichtet Bernhard, wie er sich als Achtjähriger, kaum dass er das Fahrradfahren gelernt hat, aus heiterem Himmel und ohne jemanden um Erlaubnis zu fragen entscheidet, auf dem Steyr-Waffenrad seines Vormundes von Traunstein nach Salzburg zu radeln, um dort eine Tante zu besuchen. Das triumphale, „beispiellose Hochgefühl“ und die „Glückseligkeit“ des Achtjährigen schlagen mit einem Mal aber um in tiefste Depression und Selbstverurteilung. Hinter Straß reißt die Kette des Fahrrads und das eben noch triumphierend Kind findet sich im Straßengraben wieder. Die Landschaft, die eben noch in „zusehends beschleunigter Geschwindigkeit“ „durcheilt“ wurde, wird durch ein Unwetter zu einem „Inferno“, dessen „Wassermassen“ alles von der Straße zu spülen drohen. Hat der Achtjährige das Radfahren eben noch als „Kunststück“ und sich selbst als „ein ganz besonders intelligenter und mit ganz besonderen Geistesgaben ausgestatteter Mensch“ imaginiert, dem nur noch die gebührende Bewunderung fehle, so verurteilt er sich mit einem Mal wegen seines Verhaltens zur „Höchststrafe“. Eben noch zugehörig zur „auserwählten Klasse der Radfahrer“ sieht er sich urplötzlich ausgeschlossen aus dem Kreis der Menschen: „Ich war grausam, ich war niederträchtig, ich war hinterhältig, ich war, das war das Schlimmste, gefinkelt. Die ganze menschliche Gesellschaft stand mir als einzigem, der nicht zu ihr gehörte, gegenüber. Ich war ihr Feind. Ich war der Verbrecher. Ich verdiente es nicht mehr, in ihr zu sein, sie verwahrte sich gegen mich.“

Wo die Kunst des Radfahrens scheitert, weil der Radausflug mit einem Unfall endet, da gelingt die Kunst des Erzählens, indem sie das Unfallgeschehen zu ihrem Gegenstand macht. Sie leistet, was die Kunst des Radfahrens nicht zu leisten vermag, nämlich „mein Vergehen oder gar Verbrechen auszulöschen“. Auf dem nächtlichen Rückweg zum Großvater, der ihn vor dem Zorn und der Strafe der Mutter beschützen soll, „bosselt“ das Kind „bis in die kleinsten Einzelheiten“ an der „dem Großvater vorzutragenden Erzählung“. Heraus kommt „ein wohlgelungenes Kunstwerk, dessen Wirkung nicht ausbleibt, auch wenn das Kind seine Geschichte zunächst nicht dem schriftstellernden Großvater sondern dem gleichaltrigen Freund Schorschi erzählt. Der Leser wird Zeuge der Geburt des souveränen Erzählers, der das Wissen um die Vorlieben seines Zuhörers, sein Material und auch die Dramaturgie des Erzählens von einem Augenblick auf den anderen nach allen Regeln der Kunst einzusetzen weiß:

„ich setzte mich mit ihm in sein kaltes Zimmer und erzählte ihm meine Geschichte. Sie hatte die erwartete großartige Wirkung auf ihn. Alles, was ich sagte, bewunderte er, und mit jeder neuen Wendung in meinem Bericht war seine Bewunderung eine noch größere. Ich selbst genoß meinen Bericht so, als würde er von einem ganz andern erzählt, und ich steigerte mich von Wort zu Wort und gab dem Ganzen, von meiner Leidenschaft über das Berichte selbst angefeuert, eine Reihe von Akzenten, die entweder den ganzen Bericht würzende Übertreibungen oder sogar zusätzliche Erfindungen waren, um nicht sagen zu müssen: Lügen. Ich hatte, auf dem Schemel neben dem Fenster sitzend, den Schorschi auf seinem Bett gegenüber, einen durch und durch dramatischen Bericht gegeben, von dem ich überzeugt war, daß man ihn als ein wohlgelungenes Kunstwerk auffassen mußte, obwohl kein Zweifel darüber bestehen konnte, daß es sich um wahre Begebenheiten und Tatsachen handelte. Wo es mir günstig erschien, hielt ich mich länger auf, verstärkte das eine, schwächte das andere ab, immer darauf und im übrigens mich als den Mittelpunkt meines dramatischen Gedichts niemals außer acht zu lassen. Ich wußte, was dem Schorschi imponierte und was nicht, dies Wissen war die Grundlage meines Berichts. Es war hellichter Tag, als ich mit meinem Bericht zu Ende war. Ich hatte die Fähigkeit, mein klägliches Scheitern am Ende mit ein paar kurzen Sätzen zu einem Triumph zu machen.“

Überraschend positiv liest sich auch der Bericht über den Unfall, den Bernhard bald nach dem Kauf des Triumph Herald Roadster, von dem bereits die Rede war, bei einem Urlaub an Istrien hat. Im Hochgefühl der Fertistellung seiner Erzählung „Amras“ unternimmt er eine Spritztour, bei der ihm ein Auto auf einer Küstenstraße die Vorfahrt: „Dort, wo die große Felswand vor Opatija in der Abendsonne grell aufleuchtet, bog ein Wagen von links in meine Fahrbahn ein, er krachte direkt in die Vorderseite meines Wagens und zerquetschte sie vollkommen.“ Der Triumph Herald Roadster ist zwar nurmehr ein „Blechhaufen“ und auch Bernhard, der „aus dem Wagen geschleudert“ wird, zieht sich eine Platzwunde am Kopf zu, die stark blutet. Das Resümee Bernhards fällt dann aber alles in allem recht lakonisch aus. Bernhard ist zwar „sehr enttäuscht“, beschließt seinen Bericht über das Ende seines „Autoglücks“ aber mit den Worten: „Mein Herald war ein Blechklumpen, ich ging ein paarmal um ihn herum und ich dachte, daß ich nur eintausendzweihundert Kilometer damit gefahren bin. Schade.“ Der Unfall in Istrien erscheint dem Erzähler allenfalls als ein „Mißgeschick“, da er „wie durch ein Wunder mit dem Leben davongekommen“ sei. Verzweiflung, Niedergeschlagenheit oder Selbstverurteilung, die man bei Bernhard hätte erwarten können, bleiben aus. Zuguterletzt werden sogar alle Forderungen des „Nobelanwalts“ gegenüber den jugoslawischen Versicherungen „zur vollsten Zufriedenheit“ Bernhards erfüllt: der Wagen wird ersetzt, worauf sich Bernhard gleich „einen neuen Herald“ kauft, und Bernhard erhält Schmerzensgeld. Obendrauf gibt es sogar noch „eine sogenannte Kleiderabfindung in unglaublicher Höhe“. Bernhard verlässt das Anwaltsbüro denn auch „naturgemäß in der höchsten Befriedigungsklasse“. Fast möchte man sagen: ein Märchen – zu schön, um wahr zu sein. Auf jeden Fall aber stellt der Unfallbericht Bernhards in „Meine Preise“ einen seltenen Glücksmoment dar in seinem ansonsten eher düsteren autobiographischem Schreiben.

Kontrapunkte

Welch eigentümliche Kontrapunkte. Auf der einen Seite der Thomas Bernhard, der Automobile und schnelles, riskantes Fahren liebte. Auf der anderen Seite der, der mit den ersten Erfolgen als Schriftsteller begann, Immobilien zu erwerben, um in ihnen sesshaft zu werden; der „Mauern“ erwirbt, um sich, wie er formuliert, „in ihnen einsperren zu können.“ Als wäre das eine nicht ohne das andere denk- und lebbar: die Mobilität nicht ohne die Sesshaftigkeit und die Sesshaftigkeit nicht ohne die Mobilität. Dass es am Ende dann aber vielleicht doch das Unterwegssein war, das für Bernhard wichtiger war, dafür könnte eine oft zitierte Passage aus Bernhards Erzählung „Wittgensteins Neffe“ ein Beleg sein. In ihr heißt es: „nur im Auto und auf der Fahrt bin ich glücklich, ich bin der unglücklichste Ankommende, den man sich vorstellen kann, gleich, wo ich ankomme, komme ich an, bin ich unglücklich.“

Zitate aus Thomas Bernhard, Auslöschung. Ein Zerfall (Suhrkamp Verlag, 1986), Meine Preise (Suhrkamp Verlag, 2009), Ein Kind (Suhrkamp Verlag, 2014), Wittgensteins Neffe (Suhrkamp Verlag, 1987)

In Betrachtung von Fotografien

„Sie hatten keine Gesichtszüge mehr, sie hatten nicht einmal mehr Gesichter.“
Thomas Bernhard, Auslöschung. Ein Zerfall

Reale Fotografien und Fotobände bilden immer wieder das Material, an dem sich die Schmähreden von Thomas Bernhard oder die seiner Figuren entzünden. Wenn die Romanfigur Reger in „Alte Meister“ über den „lächerlichen nationalsozialistischen Pumpenhosenspießer“ Martin Heidegger herzieht, dann bilden Fotografien der Fotoreporterin Digne Meller Markovicz, die im September 1966 und im Juni 1968 entstanden und die 1985 in dem Fotoband „Martin Heidegger“ erschienen, den Ausgangspunkt. Thomas Bernhard, der sich an der Überhöhung stieß, mit der seiner Meinung nach in diesem Fotoband noch das Banalste fotografisch in Szene gesetzt wird, lässt seine Romanfigur Reger berichten, er habe

„eine Reihe von Fotografien gesehen, die eine zuhöchst talentierte Fotografin von Heidegger, der immer ausgesehen hat wie ein pensionierter feister Stabsoffizier, gemacht hat, sagte Reger, und die ich Ihnen einmal zeigen werde; auf diesen Fotografien steigt Heidegger aus seinem Bett, steigt Heidegger in sein Bett wieder hinein, schläft Heidegger, wacht er auf, zieht er seine Unterhose an, schlüpft er in seine Strümpfe, macht er einen Schluck Most, tritt er aus seinem Blockhaus hinaus und schaut auf den Horizont, schnitzt er seinen Stock, setzt er seine Haube auf, nimmt er seine Haube vom Kopf, hält er seine Haube in den Händen, spreizt er die Beine, hebt er den Kopf, senkt er den Kopf, legt er seine rechte Hand in die linke seiner Frau, legt seine Frau ihre linke Hand in seine rechte, geht er vor dem Haus, geht er hinter dem Haus, geht er auf sein Haus zu, geht er von seinem Haus weg, liest er, isst er, löffelt er Suppe, schneidet er sich ein Stück (selbstgebackenes) Brot ab, schlägt er ein (selbstgeschriebenes) Buch auf, macht er ein (selbstgeschriebenes) Buch zu, bückt er sich, streckt er sich und so weiter, sagte Reger. Es ist zum Kotzen.“

Nicht minder berühmt sind Bernhards Einlassungen in seinem Artikel „Der pensionierte Salonsozialist“, der 1981 im Wiener Wochenmagazin profil anlässlich des siebzigsten Geburtstags des damaligen österreichischen Bundeskanzlers Bruno Kreisky erschien. In dieser Rezension des Bildbandes „Bruno Kreisky“, zu dem Gerhard Roth und Peter Turrini huldigende Texte beigesteuert hatten, erregt sich Bernhard über das Bild, das der zu diesem Zeitpunkt noch amtierende Bundeskanzler von sich lancieren lässt. Kreisky erscheine, umgeben von „Wohnzimmer-Kaktus“ und „Gartenzwerg“, als „treugedienter Staatsbeamter am Ende seiner Karriere“, als „Höhensonnenkönig“ und „Halbseidensozialist“, aus dem, so Bernhard, nie ein Staatsmann werde.

Im Unterschied zu diesen beiden Texten Thomas Bernhard sind es in seinem 1986 erschienenen Roman „Auslöschung. Ein Zerfall“ keine realen Fotobände, an denen sich der fiktive Erzähler Franz-Josef Murnau abarbeitet, sondern fiktive Fotografien. „Auslöschung. Ein Zerfall“ ist die Wiedergabe und Niederschrift eines inneren Monologs des Protagonisten Franz-Josef Murau, der seine Gedanken anlässlich des Unfalltods seiner Eltern und seines Bruders schildert.

Fotografien im Besonderen und die Fotografie im Allgemeinen werden dabei insbesondere im ersten der beiden Teile des Romans, an dem Bernhard bereits ab 1976 arbeitete, thematisiert. Immer wieder kommt Murau auf eine Fotografie seiner Eltern am Londoner Bahnhof, auf eine Fotografie des Bruders auf dessen Segelboot auf dem Wolfgangsee sowie auf eine Fotografie der beiden Schwestern vor dem Haus seines Onkels in Cannes zu sprechen. Im zweiten Teil, das mit „Das Testament“ überschrieben ist, greift der Erzähler und Protagonist Murau die Fotografien der Familienmitglieder, die er im ersten Teil obsessiv „beobachtet“, so gut wie nicht mehr auf und auch allgemeine Ausführungen zur Fotografie finden sich nicht mehr.

spectator, operator und spectrum

Betrachtet man die Passagen im ersten Teil, in denen Murau auf die Fotografien seiner Angehörigen zu sprechen kommt, fällt auf, dass Murau jede der drei Tätigkeiten ausführt, deren Gegenstand eine Fotografie nach Roland Barthes ist. Im Vordergrund steht seine Rolle als spectator, also desjenigen, der die Fotografien betrachtet. Murau ist darüber hinaus aber auch operator der drei Fotografien. Er selbst hat sie gemacht, wobei der die Fotografie der Eltern heimlich und die seines Bruders gegen dessen Willen aufgenommen hat, und die seiner beiden Schwestern quasi gegen seinen Willen aufnehmen musste:

„Ich hatte diese Fotografie, wie ich mich erinnere, nur widerwillig gemacht. Aber nicht mich trifft die Schuld an diesem erbarmungslosen Foto, sagte ich mir, sie, meine Schwestern, trifft sie, denn sie hatten mich zu diesem Foto gezwungen“.

Zuletzt ist Murau auch noch spectrum, Gegenstand der Fotografie. Als er am Tag vor der Beerdigung seiner Eltern und seines Bruders auf dem elterlichen Schloss Wolfsegg das Zimmer des Vaters aufsucht, findet er auf dessen Schreibtisch Fotografie der Familie, darunter auch eine, die ihn zeigt:

„Der Vater hat auf seinem Schreibtisch Fotografien der Familie stehen, von allen von uns ein Bild, wir machen auf diesen Fotografien alle den gleichen unbedeutenden, ungefährlichen Eindruck. Die Fotografien beruhigen, sie erschrecken nicht, sie gaben nicht zur geringsten Überlegung Anlass, höchstens darüber, wie es möglich ist, dass alle diese auf den Fotografien Abgebildeten den gleichen unbedeutenden Eindruck machen.“

Dass die Fotografien auf dem Schreibtisch „nicht zur geringsten Überlegung Anlasss“ geben, unterscheidet sie von den drei Fotografien, um die Murau unablässig im ersten Teil des Romans kreist. Hier nämlich sind es gerade die Fotografie, die Muraus Gedanken und Erzählen am Laufen halten.

Diese Funktion gewinnen sie dabei auch dadurch, dass Murau die Fotografien ständig umsortiert: Mal legt er das Foto des Bruders „neben das Foto“ seiner Eltern; mal das Foto seines Bruders und das seiner Schwestern über das der Eltern; mal das Foto des Bruders und das der Eltern über das der Schwestern. Am Ende des ersten Teils legt er alle drei Fotografien dann zunächst vor sich auf dem Schreibtisch nebeneinander, um sie dann schließlich übereinander zu legen, so dass das Foto der Eltern zuoberst zu liegen kommt und „die beiden anderen zudeckte“.

Zu seiner Überraschung führt das permanente Umsortieren der Fotografien dazu, dass die Beziehungen der Dargestellten jeweils anders erscheinen:

„Ich legte die Fotografie, die meinen Bruder Johannes zeigt, an die erste Stelle und die, auf welcher meine Eltern auf dem Victoriabahnhof abgebildet sind, zuunterst, was im Augenblick einen verblüffenden Effekt machte: der Bruder oben und die Eltern unten standen jetzt für mich einem ganz anderen Verhältnis zu den Schwestern in der Mitte.“

Und an einer anderen Stelle heißt es:

„Das Foto meines Bruders oben bedeutet jetzt, dass er schon der Wichtigste der Familie war, die Eltern unten schon weit weniger wichtig.“

Wieland Schmied, ein langjähriger Bekannter und Nachbar von Thomas Bernhard, hat darauf hingewiesen, dass Bernhards Erzählen durch die Vorstellung von Gegensätzen inspiriert und durch die Spannungen, die zwischen ihnen entsteht, vorangetrieben wird. Jedes Einerseits ruft bei ihm nach einem Andererseits, jede Aussage provoziert ihren Widerspruch. Dies gilt inhaltlich für die Charakterisierung von Personen, von Ereignissen, von Orten und die Benennung der Gefühle, die sie hervorrufen, und das gilt formal für Entwicklung und Entfaltung der Text.

Im ersten Teil von „Auslöschung. Ein Zerfall“ wird dieses Denken, Fühlen und Urteilen von einem Pol zu seinem gegengesetzten Pol und zurück vorangetrieben durch die Betrachtung von Fotografien, wobei aus deren Umsortierung sich für den Erzähler Murau immer wieder neue Hierarchien in den Beziehungen der Angehörigen ergeben. Das permanente Hin und Her zwischen Aussage und ihrem Widerspruch schlägt sich im Hinblick auf die Fotografie aber auch und vor allem in der Antwort auf die Frage nieder, ob Fotografie einen Mittel der Bewältigung darstellen kann, und welchen epistemischen Wert sie besitzt.

Fotografien als Mittel der Bewältigung?

Wenn Murnau im ersten Teil des Romans die Fotografien seiner Eltern, seines Bruders und seiner Schwestern beschreibt, so ist durchweg die Rede davon, dass diese auf den drei Fotografien lächerlich erscheinen. Zwar räumt er ein, dass die Dargestellten „doch nicht immer nur komisch und lächerlich gewesen sind, sie waren die meiste Zeit ganz und gar anders, durchaus nicht lächerlich und komisch“. Aufbewahrt hat er aber, wie er mehrfach ausführt, eben nur diese drei Fotografien, wobei er die „Niedrigkeit“ dieses Verhaltens durchaus eingesteht.

Welches Ziel damit verfolgt wird, wird nicht zuletzt in der Abgrenzung zu den bereits erwähnten Fotografien deutlich, die auf dem Schreibtisch des Vaters stehen. Während die Eltern, der Bruder, die Schwestern und auch er selbst auf diesen Fotografien einen „ungefährlichen Eindruck“ machen und den Betrachter Murau „nicht erschrecken“, wählt Murau mit den drei Fotografien durchweg solche aus, die die Dargestellten zu lächerlichen Figuren auf einem Stück Papier bannen. So heißt es über die Eltern und deren Fotografie:

„Sie waren auf einmal über Nacht auf dieses groteske und lächerliche Foto zusammengeschrumpft. Sie mussten tödlich verunglücken und zu diesem lächerlichen Papierfetzen, der sich Fotografie nennt, zusammenschrumpfen, um dir nicht mehr schaden zu können.“

Muraus Strategie indes geht nicht auf. Die auf den Fotografien dargestellten Eltern, der Bruder und die Schwestern verfolgen und quälen ihn zuletzt gerade mit ihrer Lächerlichkeit:

„Die Fotografie ist tatsächlich die Teufelskunst unsere Zeit, sagte ich mir, sie lässt uns jahrelang und jahrzehntelang und lebenslänglich spöttische Gesichter sehen, wo es nur ein einziges Mal solche spöttischen Gesichter gegeben hat, nur einen einzigen Augenblick lang auf einem Foto, welches wir vollkommen unüberlegt gemacht haben, einem plötzlichen Einfall nachgebend. Und dieser plötzliche Einfall hat dann eine lebenslängliche verheerende, ja gleich fürchterliche Wirkung. Eine nicht mehr abstellbare Wirkung, in welcher wir manchmal bis an den Rand der Verzweiflung gestoßen werden.“

Die drei Fotografien sind insbesondere kein Mittel, um dem Erzähler Murau eine halbwegs gerechte und angesichts des Unfalltodes angemessene Beurteilung Schwestern und der tödlich verunglückten Eltern und des Bruders zu ermöglichen. Murau muss sich am Ende des ersten Teils „Das Telegramm“ eingestehen:

„Ich setzte mich an den Schreibtisch und betrachtete die Fotografien, die ich schon den ganzen Nachmittag betrachtet hatte, beobachtet, wie ich mich sogleich verbesserte. Ich legte die Fotografien jetzt nebeneinander und sagte mir, dass die darauf Abgebildeten so nicht beurteilt werden können. Nicht als Fotografierte. Ich legte die Fotografierten übereinander, so, dass das Foto mit meinen Eltern, das sie auf dem Victoriabahnhof in London zeigt, gerade, als sie im Begriff sind, in den Zug nach Dover einzusteigen, die beiden anderen zudeckte. Ich hatte das Gegenteil gewünscht, aber sie machten jetzt genau denselben komischen und lächerlichen Eindruck auf mich, wie vorher. Ich legte die Fotografien in die Schreibtischschublade zurück.“

Wahrheit und Lüge der Fotografie

Die Unfähigkeit Muraus, angesichts der Fotografien zu einer halbwegs gerechten und angemessenen Beurteilung seiner Angehörigen zu kommen, spiegelt sich nicht zuletzt in der ambivalenten Bewertung des epistemischen Werts der Fotografie. Murau bezeichnet die Fotografie einmal als „ungeheuerliche Naturverfälschung“ und solchermaßen als „das größte Unglück des zwanzigsten Jahrhunderts“, dann wieder erscheint sie ihm als „wahres Abbild“ dessen, das sie darstellt. Dieses Hin- und Herspringen zwischen den verschiedenen Positionen geht soweit, dass Lüge und Wahrheit schließlich ununterscheidbar werden: „Das Verzerrte, das Verlogene auf ihnen ist die Wahrheit, dachte ich. Die absolute Verleumdung darauf ist die Wahrheit.“

Wenn die Rede von Wahrheit und Lüge überhaupt noch Sinn machen kann, dann allenfalls im Begriff einer subjektiven Wahrheit. Diese Position erscheint Murau in „Auslöschung. Ein Zerfall“ zuweilen als die einzig mögliche. Die Fotografien seiner Angehörigen zeigen, so Murau, „hinter der Perversität und der Verzerrung doch die Wahrheit und die Wirklichkeit dieser sozusagen Abfotografierten, weil ich mich nicht um die Fotos kümmere und die darauf Dargestellten nicht, wie sie das Foto in seiner gemeinen Verzerrung und Perversität zeigt, sehe, sondern wie ich sie sehe.“ Die Fotografien der Angehörigen sind nicht mehr „Wahrheitsbild“, sondern zeigen allenfalls noch das „Authentische“.

Fotografie und Schrift

Wenn Murau den epistemischen Wert der Fotografie bezweifelt, dann wird mittelbar in „Auslöschung. Ein Zerfall“ auch der Wert der Schrift als Medium der wahrheitsgetreuen Wiedergabe und Aufbewahrung des Erzählten thematisiert.

Bernhard bereitet die Engführung von Fotografie und Schrift in mehrfacher Hinsicht vor. Zum einen ist Murau nicht nur derjenige, der die Fotografien der Eltern, des Bruders und der Schwestern gemacht hat, also der Autor dieser Fotografien. Er erscheint im Text auch als Urheber des Romans. „Ich werde die Auslöschung schreiben“, beschließt er, um das dauernde Unrecht der nationalsozialistischen Vergangenheit zur Sprache zu bringen:

„Deshalb ist es meine Pflicht, in der Auslöschung von ihnen zu reden und auf die aufmerksam zu machen stellvertretend für so viele, die über ihre Leiden während der nationalsozialistischen Zeit nicht sprechen, sich nur ab und zu darüber zu weinen getrauen. Die Auslöschung gibt mir die beste Gelegenheit, wenn ich imstande bin, sie jemals zu Papier zu bringen, dachte ich.“

Zum anderen wird im Text eine buchstäbliche Nähe zwischen Fotografie und Schrift hergestellt. Murau verwahrt die Bilder der Angehörigen nicht irgendwo, sondern mit anderen Schriftstücken in der Schublade seines Schreibtisches, aus der er sie zur Betrachtung herausholt und in die er sie am Ende des ersten Teils des Romans auch wieder zurücklegt. Und wenn er die Fotografien am Schreibtisch betrachtet, dann legt er das Telegramm, in dem er über den Tod der Eltern und des Bruders benachrichtigt wird, sorgfältig neben diese. Der Aufbewahrungsort wird an einer anderen Stelle sogar als Argument für den Wahrheitsgehalt der Fotografien herangezogen:

„Ich hätte ja, dachte ich, keine Verfälschung meiner Eltern und meines Bruders in meinem Schreibtisch geduldet. Nur die tatsächlichen, die wahren Abbilder. Nur das absolut Authentische.“

Ebenso wenig, wie die Fotografie ein Medium der wahrhaftigen Wiedergabe des Dargestellten ist, ist es auch die Schrift nicht. Murau fasst den Plan der „Aufschreibung“ bereits im Bewusstsein eines möglichen Scheiterns einer wahrheitsgetreuen Wiedergabe:

„Ich will wenigstens den Versuch machen, Wolfsegg zu beschreiben, wie ich es sehe, denn jeder kann nur beschreiben, was er sieht, wie es ihm erscheint, nicht anders. Und wenn ich mir sagen müsste, ich sehe nur ein entsetzliches Wolfsegg mit entsetzlichen Menschen, ich dürfte mich nicht davon abhalten lassen, es zu dokumentieren.“

Und auch eine Befreiung ist durch die „Aufschreibung“ ebenso wenig zu erwarten wie durch die Fotografie. Zwar erscheinen die dargestellten Personen auf den Fotografien als ungefährlich, weil sie „höchstens zehn Zentimeter groß sind“. Weil sie aber nicht „widersprechen“ und sich gegen die an sie gerichteten Vorwürfe nicht wehren, lassen sie den Betrachter umso mehr verzweifeln:

„Wir sagen ihnen die allergrößten Ungeheuerlichkeiten ins Gesicht und sie widersprechen nicht einmal, wir gehen auf sie los und sie wehren sich nicht, wir können ihnen ins Gesicht sagen, was wir wollen, sie rühren sich nicht. Aber genau das bringt uns dann auch in Raserei und wir sind noch wütender. Wir verfluchen die auf den Fotografien, weil sie uns nicht antworten, weil sie uns nicht das geringste entgegnen, wo wir doch auf nichts so warten und angewiesen sind, als auf ihre Entgegnung. Wir schlagen uns sozusagen mit mikroskopisch verkleinerten Zwergen und werden wahnsinnig. Wir ohrfeigen mikroskopisch verkleinerte Zwerge und machen alles in uns verrückt dadurch. Wir lassen uns sogar dazu hinreißen, dass wir Köpfe, die nur einen einzigen Zentimeter Durchmesser haben, beschimpfen, und geben uns dadurch völlig der Lächerlichkeit preis.“

Nicht anders stellt sich dies bei der Schrift dar. Auch diese kann nach Ansicht des Erzählers Murau von den erfahrenen Erniedrigungen nicht befreien:

„Ich habe schon einmal gedacht, … ob es mir möglich sei, durch die Abfassung einer Schrift über die spöttischen Gesichter meiner Schwestern Amalia und Caecilia, mich von ihren spöttischen Gesichtern befreien zu können, aber dieser Gedanke war von mir naturgemäß aufgegeben worden, weil er sich doch bald als einer der absurdesten überhaupt erwiesen hatte.“

Die kopflose Mutter

Was jenseits der Frage bleibt, ob Fotografie oder Schrift, das, was der Fall ist, wahrheitsgetreu abbildet, ist allein das Abbild. Was Murau bleibt, das sind die in Zeitungen veröffentlichten, massenhaft verbreiteten Bilder der toten Mutter auf dem Rücksitz des völlig zerstörten Unfallwagens. Bilder, auf denen, in grotesker Übertreibung, „der kopflose Rumpf meiner Mutter abgebildet ist“ oder die den Kopf der Mutter zeigen, der nur „noch mit einem dünnen Fleischfetzen mit ihrem im Wagen sitzenden Rumpf verbunden ist“. Und die Schlagzeile, mit der der „ausführliche Bildbericht“ über die tote Mutter überschrieben ist: „Der vom Rumpf getrennte Kopf.“

Das Vorbild aber bleibt Murau buchstäblich verschlossen. Mehrfach versucht er im zweiten Teil des Romans, in dem die Vorbereitungen des Begräbnisses und dieses selbst geschildert werden, den bereits geschlossenen Sarg der Mutter zu öffnen. Dies gelingt ihm aber trotz mehrfacher Anläufe nicht.

Roland Barthes hatte in „Die helle Kammer“ die Photographie gegenüber anderen Darstellungssystemen dadurch ausgezeichnet, dass der Signifikant in der Photographie „allemal unsichtbar“, der Referent dagegen „immer da“ sei: „Was immer auch ein Photo dem Auge zeigt und wie immer es gestaltet sein mag“, führt Barthes aus, „es ist doch allemal unsichtbar: es ist nicht das Photo, das man sieht, … jedes Photo ist in gewisser Hinsicht die zweite Natur seines Referenten“. Thomas Bernhards Roman „Auslöschung. Ein Zerfall“ entwirft hierzu die Gegenposition. Dass der Signifkant für seinen Referenten einsteht, wird hier für die Fotografie – und vermittelt darüber auch für die Schrift – bestritten.

Alle Zitate aus Thomas Bernhard, Alte Meister (Suhrkamp Verlag, 1988), Der Wahrheit auf der Spur (Suhrkamp Verlag, 2012), Auslöschung. Ein Zerfall (Suhrkamp Verlag, 1986).

 

Raum II – László F. Földényi
Peter Zumthor, Bruder-Klaus-Feldkapelle

Der Raum ist mehr als die Landschaft; er gehört zu den Grundlagen unserer Existenz, und gerade deshalb werden wir nur selten auf ihn aufmerksam. Eine Landschaft versetzt uns meist in Erstaunen, der Raum nur in den seltensten Fällen. Das geschieht dann, wenn ein Teil von ihm künstlich abgespalten wird und den unendlichen Raum – als Gebäude – in eine begehbare und bewohnbare Insel verwandelt. Ein solch konkreter Raumausschnitt macht das Verhältnis des Menschen zum Raum wahrnehmbar. Durch die Erschaffung eines Gebäudes kristallisiert sich ein Stück Raum zu etwas Eigenständigem heraus und macht uns bewusst, wie sehr wir uns im Raum befinden, untrennbar mit ihm verbunden sind. Ein Gebäude wird dann zu einem Erlebnis, wenn der abgespaltene Raumausschnitt in einem das Gefühl erweckt, im Endlichen stehend auch ein Teil des unendlichen Raumes zu sein, wenn man hier und jetzt, in einem sehr begrenzten Raumausschnitt, dem Gebäude also, das Grenzenlose erfahren kann.
László F. Földényi, Lob der Melancholie