Buchstäbliches

Helmuth Lethen geht in seiner Abhandlung Der Schatten des Fotografen, für die er den diesjährigen Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse erhalten hat, ausführlich auch auf Roland Barthes‘ Die helle Kammer ein. Lethen thematisiert dabei auch die Besonderheit der Fototheorie Roland Barthes‘: nämlich das fotografische Bild zuweilen als kulturell konstruierten Code und zuweilen als indexikalische Spur zu diskutieren.

Indem Lethen die Helle Kammer als „Rückfall hinter die Standards der Zeichentheorie“ interpretiert, folgt er einer Lesart, die diese Besonderheit durch einen methodischen Wechsel in den Arbeiten Roland Barthes‘ von der Semiologie zur Phänomenologie der Fotografie erklärt.

Dass Roland Barthes diesen vorgeblichen Rückfall „nicht zufällig“ provoziert hat, darin mag man Helmut Lethen noch folgen. Lethen verweist zu Recht auf den biografischen Kontext, in dem die Helle Kammer entstand: den Tod der Mutter und den Kummer, den Barthes, wie er im Tagebuch der Trauer schreibt, „in ein Schreiben einzubauen“ versuchte, in „das Buch Photographie – Mam.„.

Dass Lethen Barthes‘ Ausführungen in der Hellen Kammer als „Rückfall“ bezeichnet, wird Barthes indes nicht gerecht. Barthes selbst hat zwischen den beiden Perspektiven Semiologie und Phänomenologie keinen Bruch gesehen, sondern im Gegenteil ihre Vereinbarkeit hervorgehoben. In der Hellen Kammer spricht er in Anspielung auf seinen Aufsatz Die Fotografie als Botschaft aus dem Jahr 1961 von den „Realisten, zu denen ich gehöre und bereits gehörte, als ich die Behauptung aufstellte, die PHOTOGRAPHIE sei ein Bild ohne Code – obschon Codes selbstverständlich ihre Lektüre steuern“.

Dass die konnotierte Botschaft der Fotografie sich ausgehend von einer „Botschaft ohne Code“ entfaltet und das denotierte Bild mithin die Bedingung der Möglichkeit von Sinn darstellt, klingt aber schon in einer kurzen Abhandlung in den Mythen des Alltags (1957) an. In Schockphotos identifiziert Barthes neben einem „rein sprachlichen Zustand“ eine „Buchstäblichkeit“ des Faktums, durch die dieses „in der Evidenz seiner abgestumpften Natur eklatant wird“. Wie in Die Fotografie als Botschaft, bildet auch in „Schockfotos“ dieses Buchstäblichkeit den Kristallisationskern von Sinn, indem sie „den Beschauer zu einer heftigen Frage zwingt, ihn auf den Weg zu einem Urteil führt, das er selbst erarbeitet“.

Ein wunderbares Bild

Roland Barthes zeichnet in der Hellen Kammer ein wunderbares Bild von der Fotografie. „Die PHOTOGRAPHIE“, schreibt er, „gehört zu jener Klasse von geschichteten Objekten, von denen man auch nicht zwei Blätter abtrennen kann, ohne sie zu zerstören: die Fensterscheibe und die Landschaft, das GUTE und das BÖSE, der Wunsch und sein Objekt“.

Barthes entwirft damit eine Bildtheorie, in der der Bildträger praktisch unsichtbar ist: Das Licht der Landschaft fällt ungebrochen durch die Fensterscheibe herein in das Auge des Betrachters.

Das Darstellungssystem, das damit verbunden ist, unterscheidet sich wesentlich von anderen Darstellungssystemen. Während zum Beispiel die Malerei eine Realität fingieren kann, ohne sie gesehen zu haben, bedarf die Fotografie notwendig einer realen Sache, „die vor dem Objektiv platziert war und ohne die es keine Photographie gäbe“. Das Eigentümliche des fotografischen Darstellungssystems ist demnach, dass der Signifikant „allemal unsichtbar“ ist, wohingegen der Referent „immer da“ ist. Barthes spricht in diesem Zusammenhang durchaus doppeldeutig auch vom „Eigensinn“ des Referenten: „Was immer auch ein Photo dem Auge zeigt und wie immer es gestaltet sein mag, es ist doch allemal unsichtbar: es ist nicht das Photo, das man sieht, … jedes Photo ist in gewisser Hinsicht die zweite Natur seines Referenten“.

Was aber passiert, wenn die Fensterscheibe bricht?
Das Bild von der Fensterscheibe und der Landschaft verwandelt sich unter der Hand in ein unwirkliches Szenario, das von René Magritte stammen könnte. In seinem Gemälde Le soir qui tombe zerstört er mit der Fensterscheibe den Ausblick, fasst diesen in den Scherben aber nicht mehr als Ganzes zusammen. Zerspringt die Fensterscheibe, dann zerbricht auch die Landschaft.