Auge in Auge

Gibt es eine Wahrheit der Fotografie? Wenige haben sich an dieser Frage so intensiv abgearbeitet wie Roland Barthes.

Barthes träumte von einem bedeutungslosen und unschuldigen Reich der Zeichen, das nicht nur den unmittelbaren Bezug zum Realen bewahrt, indem es den gesellschaftlich und historisch codierten Sprachen entzogen ist, sondern das auch, indem es in die sprachlichen Ordnungen hineinragt, diese überschreiten und außer Kraft setzen sollte. Er träumte davon in seinem Buch über Japan und dem Haiku, jener traditionellen japanischen Gedichtform, in der jedwede Referenz aufgehoben ist. Er träumte davon in Die Lust am Text, in der die „Wollust“ der Lektüre die symbolischen Ordnungen erschüttert und überschreitet. Und er träumte davon in seiner vielfältigen Beschäftigung mit der Fotografie, in der er von seinen frühen Texten bis zu Die helle Kammer eine „Botschaft ohne Code“ verwirklicht sah.

Kennzeichnend für ein Gemälde oder eine Zeichnung ist, so Barthes, ein Stil, der zwischen Wirklichkeit und Abbildung vermittelt. Durch die Art der Bearbeitung wird in der Reproduktion das Dargestellte immer schon mit einem zusätzlichen Sinn aufgeladen. Anders die Fotografie. Beim fotografischen Bild erkennt Barthes eine Dimension, in der die Konnotation zunächst keine Rolle spielt. Die Fotografie ist reines Denotat, „ein buchstäbliches Analogon des Wirklichen“ und befindet sich damit quasi in einem Nullzustand der Bedeutung. Der Grund dafür ist laut Barthes in dem für die Fotografie spezifischen chemisch-physikalischen Herstellungsprozess zu sehen. Barthes schließt damit an Theorien an, die sich bereits in der Frühzeit der Fotografiegeschichte finden, etwa in Talbots The Pencil of Nature, in dem der Zeichenstift der Natur ohne Zutun des Fotografen das fotografische Bild erzeugt.

Dem Mythenkritiker Barthes ist indes nicht entgangen, dass gerade diese Eigentümlichkeit der Fotografie, reine Denotation zu sein, ihrer Naturalisierung für politische und ideologische Zwecke Vorschub leistet. Indem sie als quasi natürliches Zeichen gegen jeden kritischen Zugriff immun sind, sind Fotografien prädestiniert für Verwendungen jedlicher Art: sie scheinen auch dann noch natürlich zu sein, wenn ihre Denotation schon längst von Konnotationen überlagert ist. Barthes beschreibt diese Überformung am Beispiel des Umgangs mit einem veröffentlichten Porträt von sich: „eine ausgezeichnete Photographin machte einmal von mir ein Bild, auf dem ich die Trauer über einen Todesfall abzulesen glaubte, der sich kurz zuvor ereignet hatte: dieses eine Mal gab mich die PHOTOGRAPHIE mir selbst zurück; wenig später fand ich jedoch das gleiche Photo auf dem Umschlag einer Schmähschrift wieder; durch die Arglist des Drucks war mir nichts als ein schreckliches veräußerlichtes Gesicht geblieben, finster und schroff wie das Bild, das die Autoren des Buchs von meiner Sprache vorzeigen wollten.“ Die Unausweichlichkeit der Überformung und Einordnung in andere Zeichenordnungen mag im Übrigen auch der Grund dafür sein, dass man das Bild der Mutter, an dem sich Barthes‘ Bemerkung zur Photographie entfaltet, in Die helle Kammer vergeblich sucht.

Gegen Barthes‘ Anspruch auf eine immanente Bedeutung und Wahrhaftigkeit des fotografischen Bildes, der im Bild die unvermittelte, von der Kultur nicht berührte Kopie der Wirklichkeit sieht, lässt sich allerdings einwenden, dass es die Kultur ist, die den Apparat, mit dem fotografische Bilder aufgezeichnet werden, hervorgebracht hat. Vilém Flusser hat mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass das fotografische Abbilden die Erfüllung eines kulturell vorgegebenen Programms ist. Mit Flusser ließe sich sagen, dass es keine Aufzeichnung außerhalt der Regeln des Programms gibt. Die Optik des Fotoapparats, die die Zentralperspektive durchsetzt, wie auch die Chemie des Films oder die Algorithmen digitaler Techniken codieren den Aufzeichnungsvorgang lückenlos und von Anfang an.
Möglicherweise hat Barthes um des Traums von der reinen Denotation in der Fotografie willen in Die helle Kammer gerade dem Fotografen, also dem Akteur, der das fotografische Bild macht, so wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Die Begründung dafür fällt merkwürdig knapp und etwas abfällig aus: „Zu einer dieser Tätigkeiten hatte ich keinen Zugang, und ich brauchte sie gar nicht zu befragen: ich bin kein Photograph, nicht einmal Amateurphotograph; dafür habe ich zu wenig Geduld: ich muß auf der Stelle sehen können, was ich gemacht habe (Polaroid?Amüsant, doch enttäuschend, außer wenn ein großer Photograph sich damit abgibt). Ich konnte annehmen, daß das Gefühl des operator (und demnach das Wesen der PHOTOGRAPHIE im Sinne des PHOTOGRAPHEN) in irgendeiner Beziehung steht zu dem »kleinen Loch« (stenopäischer Apparat), durch welches er das, was er »einfangen« (überraschen) möchte, besieht, begrenzt, einrahmt und ins Bild bringt.“

Da Barthes auf die „chemische Natur“, die er an anderer Stelle in Die helle Kammer als Bedingung der Möglichkeit der Fotografie exponiert, reines Denotat zu sein, nicht verzichten kann, entzieht er diese mit einem wenig überzeugenden Argument dem Bereich des Operator und schlägt sie einem der beiden ihm verfügbaren Erfahrungsbereiche zu, dem Spectator, also dem Betrachter: „Mir schien, daß die PHOTOGRAPHIE des spectator ihrem Wesen nach auf die, wenn man so sagen kann, chemische Enthüllung des Gegenstands zurückging (dessen Strahlen mit Verzögerung zu mir gelangen), und daß die PHOTOGRAPHIE des operator im Gegensatz dazu durch das von der Verschlußöffnung der camera obscura ausgeschnittene Bild bedingt war.“

Literatur
Roland Barthes: Auge in Auge. Kleine Schriften zur Photographie
Herausgegeben von Peter Geimer und Bernd Stiegler